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Die gläsernen Menschen von Hassloch

Das größte Dorf in Rheinland-Pfalz als Mekka der Werbestrategen/ Die statistischen „Durchschnitts- Konsumenten“ sind fahrradbegeistert und mehrheitlich protestantisch  ■ Aus Hassloch Heide Platen

Daß Hassloch in der Pfalz, 20.000 Einwohner in der Ebene zwischen Rhein und Haardtgebirge, die bundesdeutsche Durchschnittsgemeinde mit den ganz besonders durchschnittlichen Verbrauchern sei, bestätigt sich schon am Bahnhof nicht. Das rabiate Betonambiente ist nämlich gewiß noch ein bißchen scheußlicher als anderswo. Und die überdurchschnittlich vielen, auf dem Vorplatz abgestellten Fahrräder lassen auch ahnen, daß die Hasslocher vielleicht doch ein ganz eigener Menschenschlag sind. Seit sich die Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung (GfK) aus Nürnberg 1986 entschied, die Gemeinde zum Mikrotestmarkt für die Wirksamkeit von Fernseh- und Zeitungswerbung zu machen, wird der Ort das Attribut „durchschnittlich“ nicht mehr los. Das gefällt Kurt Holländer eigentlich gar nicht. Der Leiter der Hauptverwaltung im neuen, postmodernen Rathaus mag das freilich nicht so deutlich sagen. Aber er fährt mit Vergnügen auf, was Hassloch sonst noch zu bieten hat: Pferdezucht und -rennbahn, den ganzjährig geöffneten Badepark, Musikschule, Segelflugplatz, traditionelle Begeisterung für das Radfahren, die vielen Radwege und viel Natur rundherum. Unkritisch ist Holländer dabei nicht. Er sieht die Stärken und die Schwächen der Planung in seiner Gemeinde sehr genau. Daß das „größte Dorf“ in Rheinland- Pfalz noch immer mit seinem, eben weder auf den ersten noch den zweiten Blick vorhandenen Dorfcharakter wirbt, ist in der Gemeinde umstritten. Der Holiday Park im Wald lockt zwar jedes Jahr 1,5 Millionen Besucher an, ist aber, das weiß auch Holländer, schwer mit den Wünschen der Umwelt- und Naturschützer unter einen Hut zu bringen. Doch sei er als Anziehungspunkt eben wichtig für den Ort, der weder die landschaftlichen Schönheiten der nahegelegenen Weinstraße zu bieten habe noch spektakuläre Baudenkmäler. Hassloch lebt von der Industrie, von den Gewerbegebieten und davon, daß die Menschen seit dem vorigen Jahrhundert, nach einer Zeit bitterer Armut und Auswanderung zu Nebenerwerbsbauern geworden, als ArbeiterInnen in die Ballungszentren nach Mannheim und Ludwigshafen pendeln.

Und dennoch macht Hassloch neugierig auf seine „gläsernen Konsumenten“. Die GfK vor Ort, im zweiten Stock in der Hasslocher City über einem Automaten- Spielsalon, gibt sich am Telefon zugeknöpft. Um so umfangreicher sind die werbemarktstrategischen Überlegungen, die die Zentrale in dicken Pressemappen verschickt. Hier ist der Verbraucher im allgemeinen und der aus Hassloch im besonderen kein Versuchskaninchen, sondern vor allem ein unberechenbares „Chamäleon“, dessen unberechenbares Verhalten vom Wohnzimmer bis zur Kaufentscheidung nachvollzogen werden soll. Dazu braucht es zuerst einmal einen Kabelanschluß. Vom Studio in Hassloch aus schaltet sich die GfK direkt in 2.000 ausgesuchten Haushalten ins reguläre Fernseh- Programm ein, blendet andere Werbespots aus und eigene ein, die anderswo nicht zu sehen sind. Mehrere mit Sonderanzeigen präparierte Zeitschriften werden ebenfalls an sie verschickt. Gleichzeitig bekommen die angeschlossenen Hasslocher Supermärkte die entsprechenden Testprodukte in die Regale gestellt. An der Kasse wird dann per Scanner registriert, welcher Haushalt wie oft zu der Marktneuheit greift, sie bei welchem mehr oder weniger intensiven „Werbedruck“ ersteht, ob er häufiger zulangt, wenn zusätzliche Reklametafeln, Preisreduzierungen oder Probehäppchen im Geschäft die Fernsehwerbung unterstützen. Gleichzeitig müssen 1.000 ebenfalls im Test stehende Haushalte ohne die werbliche Zusatzinformation auskommen. Ihr Kaufverhalten wird zur Kontrolle mit dem der Probanden verglichen.

Das Problem der GfK ist dabei ein hausgemachtes: „Die Informationsflut, die täglich über uns hereinbricht, trifft auf die biologisch begrenzte Aufnahmefähigkeit des menschlichen Gehirns.“ Sie registriert die Grenzen der Werbung bei steigender Reizüberflutung. Wie auch, sinniert die GfK an die Adresse der werbetreibenden Wirtschaft, solle ein Mensch, und sei er Hasslocher, sich die derzeit angebotenen „mehr als 50.000 Markennamen, geschweige denn ihre Werbung merken“. Wohl wahr.

Für solche Erkenntnisse und das Kräutlein dagegen sind die Hasslocher im Härtetest. Aus ihrem Griff in die Regale wird geschlossen, ob ein Werbebombardement ein Flop ist, ob ein Produkt nach dem ersten Versuch noch einmal gekauft wird, ob eine billigere Kampagne es auch tut. Die Haushalte werden mit kleinen Verlosungen, die das – unerbittlich geforderte – statistische Durchschnittseinkommen und den Durchschnittsgeschmack nicht durch unangemessenen Wohlstand verfälschen dürfen und durch strenge Kaufmengenkontrollen bei der Stange des Einkaufswagens gehalten. Ein Drittel der Waren, meist Reinigungs-, Körperpflege- und Nahrungsmittel, fallen bei den Hasslochern durch. Die GfK kommentiert fast philosophisch in Richtung der Produzenten: „Die geringen Qualitätsunterschiede führen zu austauschbaren Angeboten.“ Womit zweifellos gemeint ist, daß es den Kunden eigentlich egal sein kann, welches Produkt sie in ihren Einkaufswagen legen. Die Unterschiede reduzieren sich, weiß auch die GfK, auf den äußeren Schein, eben Werbung und Verpackung: wiedererkennen, einordnen, zugreifen, einkaufen.

Im Supermarkt in der Ortsmitte geht es zur Probe auf das Exempel. Am Ausgang erinnert ein dezentes orange-weißes Schild die „Verbraucher-Korrespondenz-Haushalte“ daran, den Ausweis an der Kasse vorzuzeigen. Die Suche nach den Produkten, die den gewöhnlichen Verbrauchern in anderen Städten noch vorenthalten werden, gestaltet sich schwierig. Könnte es jene Körperpflegeserie in leuchtendem Rot sein oder dieser bunt-braune Yoghurt eines Großkonzerns?

„Ja, wir sind da angeschlossen. Aber mehr darf ich auf gar keinen Fall sagen“

Ein Hinweis der GfK hilft bei der Spurensuche und detektivischer Ehrgeiz erwacht auf der Suche nach dem Produkt, das vielleicht nie in den Handel kommt. Gibt es dafür eigentlich eine Sammlerbörse? Sonderstellagen und Werbetafeln als von der GfK empfohlene „unterstützende Maßnahmen“ werden kritisch beäugt. Die Gefühle sind trotzdem so gemischt wie das Angebot. Wer kann sich, siehe oben, schließlich auch 50.000 Produkte merken. Die Kassiererin jedenfalls ist keine Hilfe. Sie lehnt die Unterstützung schlankweg ab: „Ja, wir sind da angeschlossen. Aber mehr darf ich auf gar keinen Fall sagen!“ In der Drogerie-Kette ergeht es Neugierigen nicht anders. Die Kinderkekse eines Babynahrungsanbieters sehen so fremd aus. Eines jedenfalls scheint zu funktionieren: Ohne die dazugehörige Werbung will sich der Wiedererkennungseffekt einfach nicht einstellen. Das macht auch inmitten des Bekannten seltsam orientierungslos.

Wie nun aber sieht die Hasslocher Test-Familie wirklich aus, die sich offensichtlich beim nichtangeschlossenen Einzelhandel nicht so besonderer Beliebtheit erfreut? Keine Ahnung, sagt die Gemüsefrau ebenso wie die Fleischereiverkäuferin. Sie empfinden wenig Begeisterung für die GfK, die die auf die Erfüllung ihres Solls festgelegten Testhaushalte dem kleinen Einzelhandel entzieht. Sie wissen aber auch, daß die Hasslocher Hausfrauen einen anderen Blick als den der Fremden bei dem von ihnen geforderten Kaufverhalten haben. Denn: der grobe Bedarf wird halt im GfK-Laden erstanden und dort oft um die vermuteten Testprodukte angereichert, „schon wegen der Gewinnchancen“. Aber Metzger, Bäcker und Gemüseladen frequentieren sie trotzdem, „schon wegen der Schwätzchen“.

Im Café an der Hauptkreuzung geben sich die Männer weniger zugeknöpft. Ein „Unsinn“ sei das Ganze, bringe nur „negative“ Schlagzeilen und mache sie zu „Konsumtrotteln“ und eigentlich in der Öffentlichkeit recht lächerlich. Und Durchschnittsbürger seien sie schon gar nicht. Da haben sie vielleicht sogar recht.

Ungefähr zehn Prozent mehr Arbeiter als im Bundesdurchschnitt leben hier. Sie sind seit der Reformation mehrheitlich protestantisch und traditionelle SPD- Wähler. Die regiert auch mit knapper absoluter Mehrheit im Rathaus. Und sie hat den Geschmack der Menschen unübersehbar bis in die Vorgärten hinein geprägt – mit vielen Wackersteinen, Waschbeton und pflegeleichtem Nadelgrün. Für bürgerliche Romantik ist da kein Platz.

Finanziell gehe es Hassloch, so Holländer, und auch das entspricht nicht mehr unbedingt dem Durchschnitt, wegen des Gewerbesteueraufkommens „noch“ und „einigermaßen“ gut. Vieles aber ginge, ahnt er, nicht mehr ohne den ortsspezifischen, überproportional ausgeprägten Bürgersinn. Die meisten kulturellen Einrichtungen seien den „Ehrenamtlichen“ und den Spenden zu verdanken. Hassloch leistet sich außerdem ein überdurchschnittlich üppiges Vereinsleben mit rund 80 Gruppierungen – von den drei Brieftaubenvereinen bis zu den Schützern einheimischer und fremdländischer Vögel, die auch den Vogelpark neben der Rennbahn betreuen.

Ein Beispiel, wie viele andere, ist die 64jährige Marianne Wittmann – eine ganz typische Hasslocherin, aber bestimmt keine typische Konsumentin. Die ehemalige Grundschulrektorin hat gerade die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik verliehen bekommen. Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, nicht zu verbrauchen, sondern, so die Laudatio, „in besonderem Maße heimisches Kulturgut“ zu bewahren – selbstverständlich ehrenamtlich. Das begann, als sie auf einem Speicher Teile des gesammelten Nachlasses des 1940 verstorbenen Oberlehrers und Heimatforschers Gottlieb Wenz entdeckte. Sie staubte die Schätze ab und katalogisierte sie. Seit 1973 engagierte sie sich, zusammen mit anderen, für den Erhalt des 1599 erbauten „Ältesten Hauses“ in der Gillergasse 11. Da liegen in den Vitrinen die Zeugnisse nicht nur der steinzeitlichen und römischen Siedler, sondern vor allem die des alltäglichen Lebens der letzten Jahrhunderte im Ort. Im Museum sind eine Küche, Wohn-, Schul- und Spielstube mit liebevollem Detail eingerichtet. Die Eisschränke sind garantiert FCKW-freie Stangeneisbehälter, die Waschmaschinen mechanisch zu drehen und die Butterfässer mit einer schweißtreibend umweltfreundlichen Kurbel zu bedienen. Die alten Hasslocherinnen haben nur wenig weggeworfen, keine grüne oder gelbe Tonne gebraucht, sondern ihre Stickereien und Wäschespitzen sorgfältig aufgehoben und vererbt. Der Vergleich der Packungen der alten Mottenmittel und Waschpulver, der Reinigungspülverchen, die ganz unverstellt Ungezieferfreiheit versprachen, mit dem heutigen Angebot hat seinen ganz eigenen Reiz.

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