Die Währung der Zeit nutzen

■ Helmut Merschmann sprach mit Atom Egoyan, dem Regisseur von „Calendar“, über seinen neuen Film, über Video und den archivarischen Umgang mit Bildern

Atom Egoyan wurde 1960 in Kairo geboren. Die aus Armenien stammende Familie siedelte früh nach Kanada über. Seit 1979 macht Egoyan Folme, in letzter Zeit auch Theaterstücke. „Next of kin“ (1984), „Family Viewing“ (1987, im Forum 1988), „Speaking Parts“ (1989) und „The Adjuster“ (1991) sind seine hierzulande bekannten Filme, die zum Teil auch im Fernsehen zu sehen waren. „Calendar“, wurde vom ZDF mit 100.000 Dollar produziert.

taz: Herr Egoyan, Ihre Filme beschäftigen sich mit der Konfrontation der kanadischen und armenischen Kultur. Wie würden Sie deren Beziehung definieren?

Atom Egoyan: Die armenische Kultur besteht aus zwei verschiedenen Kulturen, eine innerhalb und eine außerhalb Armeniens. Meine Filme beschäftigen sich mit diesen beiden Ebenen: was es heißt, eine Identität zu haben, ohne Zugang zu ihrem Ursprung. Ich bin zwar Armenier, bin aber in der kanadischen Kultur aufgewachsen. Ich empfinde eine gewisse Traurigkeit oder Nostalgie meinem armenischen Anteil gegenüber, den ich nicht genau bestimmen kann. Meine Filme handeln auch von diesem spezifischen Verlust.

Medien, insbesondere Video, werden in Ihren Filmen als eine Art letzter Möglichkeit der Menschen dargestellt, um miteinander noch kommunizieren zu können. Glauben Sie, daß sie die orale Kultur abgelöst haben?

Es gibt da einen gewissen Verdacht, den ich gegenüber einer medial vermittelten Beziehung hege. Jeder Dramatiker muß die Währung seiner Zeit benutzen. Mir müssen also die Technologien unserer Zeit geläufig sein, die ich so oder so auch moralisch beurteile. Tatsache ist, daß wir jetzt Dokumente unserer Gefühle in einer sehr vermittelnden und spontanen Weise machen und dann über diese Gefühle oder Gedanken reflektieren können. Der Umgang mit diesen Bildern ist sehr archivarisch geworden.

Sie setzen Video ein, um Ihren Figuren die Möglichkeit zu geben, ihre Erinnerungen zu rekonstruieren und zu konservieren.

Die Technologien geben einem die Möglichkeit, die eigene Geschichte und Identitätvon einer objektiven Warte aus zu reflektieren. Gleichzeitig schaffen sie diese Perspektive oder vielmehr die Illusion, sie sei möglich. Und das finde ich sehr faszinierend, daß wir von Maschinen umgeben sind, die uns die Illusion vermitteln, bestimmte Dinge erreichen zu können. Armenien ist in dieser Hinsicht mittelalterlich und sehr eingeschränkt. Es ist also ironisch, daß ich diese Ideen dorthin bringe, in eine Kultur, der sich ihre Bedeutungen nicht stellt. Ich hoffe, daß auch diese Ebene des Dialogs im Film ist.

In einem Interview sprachen Sie von einem „Standpunkt“, den man inmitten der Medienwelt einnehmen muß. Wie könnte er beschaffen sein?

Mißtrauisch sein. Wir greifen manchmal Images auf, ohne zu wissen, woher sie kommen. Auch verstehen wir oft nicht, in welchem Ausmaß unsere Person das Resultat bestimmter Images ist, die wir gesehen, aber nicht notwendigerweise erfahren haben. Für die Psychoanalyse wird es zunehmend schwierig, Zugang zum Ursprung der Zweite- oder Dritte-Hand- Erinnerungen zu finden. Wenn wir sagen, wir lieben jemanden, beurteilen wir uns oft über Images, die wir in Filmen gesehen haben.

In „Calendar“ muß der Zuschauer die Geschichte genauso rekonstruieren, wie es die Figur des Fotografen anhand der Videoaufzeichnungen mit seiner eigenen Geschichte versucht...

Er geht durch einen sehr komplexen Prozeß, eine Umwelt einzurichten und zu kontrollieren, die er verloren hat. Aber er verlor sie durch Kontrolle. Ich meine, er entscheidet sich, die Situation bis zu ihrer extremsten Konsequenz voranzutreiben, nämlich, daß seine Frau ihn wegen des Touristenführers verläßt. Er tut nichts, um sie zurückzuhalten. Er ist ein sehr manipulierender und peinigender Geist. Er will sich bestrafen. Da ist etwas Masochistisches in seinem Wunsch, alles aufzeichnen zu müssen, und etwas Perverses zu glauben, unser Gedächtnis sei unfähig zu behalten. Es impliziert den Glauben, etwas durch Besitz kontrollieren zu können.

Dieser Umstand ist auch in der unterschiedlichen Charakterisierung der beiden zu finden. Während sie einen taktvollen Zugang zu ihrer Umwelt hat, glaubt er, Wahrheit in Bildern zu finden. Meinen Sie, daß das die Beschreibung eines zeitgenössischen Charakters ist?

Das Wort „taktil“ gefällt mir. Doch wie soll man bestimmen, was taktil ist und was nicht? Sie will die Empfindungen, die sie hat, dann fühlen, wenn sie geschehen. Er will sie lieber aufzeichnen, um sie später zu konsumieren. Gleichzeitig straft er sich dadurch. Ich wollte den Film für den Zuschauer vieldeutig lassen, so daß er nicht genau weiß, ob die Videobilder nun eine Rückblende sind, geistige Erinnerungen oder ob der Fotograf sie sich anschaut und vor- und zurückspult. Und warum könnte er das tun, um sich zu strafen oder besser zu verstehen?

Wie sehen Sie die Entfremdung der beiden? Für mich scheint es, daß je mehr die Übersetzerin sich an die armenische Kultur gewöhnt und dem Touristenführer zuhört, desto mehr entwickelt er einen ästhetischen Zugang.

Das ist wieder so ein perverser Instinkt, mit Verlust umzugehen, indem eine ästhetische Erfahrung daraus gemacht wird. Nach dem Motto: wenn schon verlieren, dann aber mit Grazie. Ich habe den Filmschnitt vor zwei Wochen beendet und ich muß gestehen, daß jeder andere meiner Filme ein sehr präzises Drehbuch hatte. Ich bin mit vielen Analysen an die Filme herangetreten. Dieser Film ist für mich sehr ungewöhnlich, denn es gab überhaupt kein Script. Erst allmählich verstehe ich einige der Implikationen und bin sehr erstaunt über ihre Perversität. Auch bin ich erstaunt über Leute, die mich und meine Frau (Arsinée Khanjian) kennen und wegen des Films Rückschlüsse ziehen. Sie konnte nicht zum Festival kommen und die Leute fragen mich, ob der Film Realität sei. Mit einem solchen Phänomen hatte ich noch nie zu tun. Obwohl ich diese Techniken und Themen so oft vorher benutzt habe, wird meine Person erst mit diesem Film Teil des Dialogs.