: Agonie des Realen
■ Der verstörendste Film des Festivals: „Ein Tag im Sterben von Sarajewo“
Wenn an diesem Film etwas fiktiv ist, dann „der Tag“, von dem erzählt wird: Bernard-Henri Lévys Film über die zermürbte, zerschossene und hungernde Stadt Sarajewo ist eine umfassende Recherche, ein brillant auf 63 Minuten montierter Bericht mit einer vertraut „sachlichen“ Radiostimme aus dem Off, die nicht aufhört zu erklären, was wir sehen.
Es ist nicht nur ein Film über das komplette Versagen einer Gesellschaft, den rapiden Verfall einer kulturell durchmischten, ehemals in völligem Frieden lebenden Stadt; es ist vor allem Nerminas Film, eine Kuratorin am großen Kunstmuseum der Stadt, deren Leben geronnen ist zum Wartestand. Da sitzt sie in ihrer hellen, noch intakten Wohnung in einem verlassenen Hochhaus unter dem permanenten Knallen und Rattern der Kämpfenden: Schade daß Jean Baudrillard nicht hierher kommt, sagt sie, mit einem süffisanten Lächeln, um seine Theorie von der Implosion der westlichen Kultur zu überprüfen. Bei physischen Explosionen, sagt sie (und gibt Baudrillard somit recht), implodieren wir innerlich.
An Nermina, die ihre Fähigkeit zur Reflexion mit stoischer Kraft konserviert hat, wird dem Zuschauer mit ungeheurer Schärfe beigebracht, wie wenig übrigbleibt auch dann, wenn jemand überleben sollte. Sarajewo hat den Spiegel seiner selbst verloren, das soziale Netz ist verstümmelt, der Alltag ist ein Restgeräusch — und Gestank. Brennendes Plastik, blutige Decken und Matratzen, verstümmelte Leiber: die Agonie des Realen.
Unter dem leichten und schweren Beschuß der beiden serbischen Armeen ist von der Kulturstadt fast nichts geblieben: die Bibliothek mit dreieinhalb Millionen Büchern ausgebrannt, die Spezialbibliothek der Juden und Moslems zu Häufchen reduziert, das Museum ein Geisterhaus, in dessen Keller Nermina dem Filmteam die Bestände vorführt, in einer Stahlkiste der Werkbestand des Schweizer Jugendstilmalers Ferdinand Hodler: Es wird wohl auch brennen, sagt sie, und erschreckt den Zuschauer nur noch in soweit, als er dasselbe gerade gedacht hat.
Ein Irrsinnskrieg, eine der angreifenden Armeen geführt von einem ehemals in Sarajewo praktizierenden Psychiater, und ein Irrsinnsfilm, mit unglaublicher Konzentration unter Lebensgefahr gedreht. Man möchte meinen, daß Bernard-Henri Lévy, der Mann im weißen Trenchcoat, der gestern Abend im Zoo-Palast seinen Kameramann als „heroischen Journalisten“ pries, ein Künstler im Schneideraum gewesen sei: Unsinn, er fliegt in ein paar Tagen wieder nach Sarajewo. Dort hat man — in Kellern frierend, hungernd, Wasser ist nur unter Lebensgefahr zu beschaffen — ein „Kulturfestival“ ausgerufen. Und die Berlinale soll, fordert Lévy, den Kontakt aufnehmen nach Sarajewo, jetzt, sofort.
„Ein Tag im Sterben von Sarajewo“, im September und Oktober 1992 gedreht, appelliert nicht an unser Mitgefühl, panzert sich gegen Krokodilstränen. Den Franzosen gelingt es, deutlich zu machen, daß das, was wir noch funktionieren sehen, an ein Phantom grenzt, zu den Reflexen Sterbender gehört, die ihr tägliches Tun nicht mehr an einer irgendwie vorstellbaren Zukunft messen. Zu den Phantomen gehört die Redaktion der Tageszeitung „Ozbodjenie“ („Befreiung“): 25 Journalisten, die in Trümmern wohnen und arbeiten: Helden eines (All)Tags, von dem man sich nur noch wünscht, daß er vorbeigeht (wie der Film). Europa muß eingreifen, diese Stadt den verbliebenen Bewohnern zurückgeben, sagen Lévy und Ravalet. Ulf Erdmann Ziegler
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