Der moralische Kreuzzug des „Stern“ gegen den Kommunisten Herbert Wehner

■ Dokumente aus Moskauer Archiven sollen Herbert Wehners Rolle in der sowjetischen Emigration neu bewerten

In der heutigen Ausgabe des Stern, eines durch die Publikation von Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit des Nationalsozialismus hinlänglich für die historische Aufklärung qualifizierten Wochenmagazins, wird mit einer neuen Sensation aufgewartet: der „Kaderakte“ Herbert Wehner (Deckname Funk). Das Konvolut wurde von dem Stern-Mitarbeiter Ulrich Völklein im ehemaligen Parteiarchiv der KPdSU aufgestöbert. „Das Material ist heiß“, teilt der Autor mit.

Enthüllt wird Wehners Mitgliedschaft in der „Kleinen Komission“ der KPD-Parteileitung, die deutsche Kommunisten im Moskauer Exil während der Jahre des Terrors 1936 bis 1938 aus der Partei ausschloß. Es wird ferner aus Briefen zitiert, die Wehner an den Interims-Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck und an Apparate der Kommunistischen Internationale richtete und in denen er eine Reihe seiner Genossen belastete. Es werden Zitate aus dem Fragebogen wiedergegeben, den Wehner während der gegen ihn laufenden Überprüfung in Moskau ausgefüllt hat und in denen er von Anschlägen gegen aus Deutschland in das Saargebiet eingereiste Mitglieder der SS berichtet. Schließlich zitiert der Autor Passagen aus Wehners „Notizen“ aus dem Jahr 1946, einem für seine neue Partei bestimmten Versuch der „Selbstbesinnung und Selbstkritik“.

Diemal hat der Stern wenigstens in einer Hinsicht Glück gehabt – die vorgelegten Dokumente bzw. Dokument-Ausrisse scheinen echt zu sein. Um so fragwürdiger ist der Interpretationsrahmen samt dem abschließenden moralischen Verdikt. Wehner war in den dreißiger Jahren Mitglied der Parteileitung und der Fachmann der Partei für illegale Organisationsarbeit. In beiden Fuktionen war er mitverantwortlich für die beispiellose Säuberungswelle, die über die in die Sowjetunion emigrierten deutschen Kommunisten rollte. Nur: Worin genau bestand diese Verantwortung? Der Autor der Stern-Artikel versucht zu suggerieren, erst aufgrund von Parteiausschlüssen aus der KPD seien die betroffenen Genossen „zum Abschuß“ freigegeben worden. „Folgsam setzte er (Wehner) seine Unterschrift unter die Kaderlisten, die Hunderte angeblich unzuverlässige Parteimitglieder aus der KPD ausschlossen und sie damit ... der Willkür des sowjetischen Gerheimdienstes auslieferten.“ Entscheidend ist hier das Wörtchen „damit“. Die KPD- Leitung vollzog aber mit dem Ausschluß aus der Partei in fast allen Fällen nur nach, was Stalin und das NKWD bzw. die von ihm kontrollierten Untersuchungsausschüsse der Kommunistischen Internationale vorher beschlossen hatten. Keinesfalls können deshalb die Entscheidungen der „Kleinen Kommission“ als Denunziationen angesehen werden. Die deutsche Partei hatte nach 1933 auch noch den letzten Rest von Selbständigkeit gegenüber der sowjetischen Partei und gegenüber deren Werkzeug, der Komintern, eingebüßt. Wer in die Fänge des NKWD geriet, war verloren, egal was die deutsche Parteileitung dazu meinte. Perfide ist in dem Stern- Artikel auch die Art und Weise, wie mit den Briefen Wehners an Pieck bzw. die Komintern umgegangen wird. Es käme in allen Fällen darauf an, die Vorgeschichte, den Kontext und das Datum der Briefe klarzumachen. Wehner war durch einige Aussagen ehemaliger Mitarbeiter Thälmanns dem Verdacht ausgesetzt, den KPD-Vorsitzenden der Gestapo ausgeliefert zu haben. Er selbst wiederum war seit 1934 überzeugt, daß eben diese Mitarbeiter zumindest mitschuldig an Thälmanns Verhaftung waren und hatte dies auch längst vor Beginn der Verhaftungswelle parteiintern geäußert. Das aber beweist, daß es sich bei dem von Wehner 1937 erneut geäußerten Verdacht nicht um den Versuch handelt, mittels willkürlicher Anschuldigungen seine eigene Haut zu retten – was der Stern-Autor uns zu suggerieren versucht. Eher komisch wirkt der Versuch des Stern, sich über die Tatsache zu entrüsten, daß Wehner während des „Saarkampfes“ bewaffnete Aktionen gegen die SS bzw. die pronazistischen saarländischen Organisationen unternahm. Ist es eigentlich die Aufgabe einer um Aufklärung bemühten Illustrierten, mit über 50 Jahren Verspätung die Einhaltung der Parteilinie gegen den individuellen Terror anzumahnen, oder käme es vielleicht nicht etwas mehr darauf an, die Zeitumstände aufzuhellen, unter denen der Griff nach der Waffe nicht so gänzlich moralisch abwegig war?

Was den Artikel des Stern zu einem Mahnmal der Ignoranz und der Überheblichkeit macht, ist das gänzliche Absehen des Autors von der Atmosphäre panischer Angst, vom Hoffen wider alle Vernunft, von apathischem Zynismus, der damals die Einwohner des Emigrantenhotels „Lux“ in Moskau niederdrückte. Es geht nicht um Entschuldigung, es geht um das „Verstehen“ einer alles und alle zermalmenden Maschinerie. Die Lektüre jedes x-beliebigen Memoirenbandes, beispielsweise der Erinnerungen Margarete Buber- Neumanns, hätte den Autor vielleicht auf die naheliegende Frage gebracht, wie er sich denn in einer entsprechenden Situation verhalten hätte. Herbert Wehner, das ist wahr, ist in seinen Notizen und auch später stets der Frage ausgewichen, welchen konkreten Anteil er an der politischen und moralischen Katastrophe des Kommunismus der dreißiger Jahre trägt. Der Artikel des Stern trägt zur Antwort auf diese Frage nichts bei. Alles, was er produziert, ist ein billiges und trügerisches Gefühl der Selbstgerechtigkeit. Christian Semler