: Bosnier drohen mit Chlorgaseinsatz
■ Bezirksregierung der belagerten Stadt Tuzla will als letztes Mittel gegen die Serben Gas einsetzen
Tuzla/Berlin (taz) – Die Leidensgrenze ist erreicht. Seit Mai 1992 wird die ostbosnische Stadt Tuzla von serbischen Truppen beschossen, seit neun Monaten ziehen die Tschetniks den Belagerungsring immer enger – nun hat sich die Verwaltung des Bezirks zu einer letzten verzweifelten Drohung entschlossen. Am vergangenen Freitag ließ sie fünf Eisenbahnwaggons mit 240 Tonnen Chlorgas an die Front bringen. Sollten die serbischen Soldaten einen neuen Angriff zur Eroberung der Stadt einleiten, wollen sie das tödliche Gas in die Atmosphäre entlassen. Damit gehen sie das Risiko ein, nicht nur die angreifenden Serben, sondern auch sich selbst zu töten. Der politisch verantwortliche Regierungspräsident der Region, Sadudin Hodžic im taz-Interview: „Da unsere Freunde uns nicht helfen wollen, nehmen wir einen möglichen kollektiven Selbstmord in Kauf, bevor wir selbst gefoltert, vergewaltigt und ermordet werden.“
Völlig überraschend kommt die Drohung jedoch nicht. Schon als im Mai des vergangenen Jahres serbische Granaten in der Nähe des Chemiewerkes in Tuzla einschlugen, überlegten die verantwortlichen Politiker, ob sie die hier lagernden Stoffe nicht selbst als „Waffe“ einsetzen könnten. Versuche, das Chlorgas in größeren Mengen an die Front zu bringen, waren jedoch von der Regierung in Sarajevo verhindert worden. Auch jetzt lehnte ein Sprecher der bosnischen Regierung auf Anfrage der taz jeden Einsatz von Gas – „auch zur Verteidigung“ – ab. Man hoffe, daß die Menschen in Tuzla sich ihre Entscheidung noch einmal überlegen werden. Neben dem Tod unzähliger Menschen „könnte der Einsatz des Chlorgases auch zu einer Eskalation des Krieges führen“. Schon lange ist nämlich bekannt, daß Belgrad über den Einsatz von chemischen Kampfstoffen nachdenkt.
Immer hoffnungsloser wird die Lage jedoch auch in anderen Teilen Ostbosniens. So warten die seit Monaten eingeschlossenen Städte Cerska, Goražde und Srebrenica weiter auf die dringend benötigten Hilfslieferungen der UNO, zwei Lastwagenkonvois nach Cerska und Goražde werden von serbischen Truppen an der Weiterfahrt gehindert. Allein am Dienstag verhungerten in Goražde nach Angaben von Radio Zagreb fünf Menschen, darunter zwei Kinder.
In Sarajevo lieferten sich auch am Mittwoch Einheiten der bosnischen Armee und der Serben heftige Kämpfe in den westlichen Vororten in der Nähe des Flughafens. Nach Korrespondentenberichten wurde insbesondere im Vorort Stup von Haus zu Haus gekämpft. In der südkroatischen Hafenstadt Zadar wurde am Morgen Alarm ausgelöst. Kroatische und serbische Verbände kämpften weiterhin in der Umgebung der Küstenstadt. Auch in Karlovac und in Ogulin gab es in der Nacht zum Mittwoch Zusammenstöße zwischen serbischen und kroatischen Verbänden. Seiten 3, 8 und 10
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