Einem Schauspieler Raum geben

Gerhard Midding sprach mit Bertrand Tavernier über CinemaScope  ■ 

taz: Monsieur Tavernier, in Filmen wie „Death watch“, „La Vie et rien d'autre“ (Das Leben und nichts anderes) oder „Daddy Nostalgie“ haben Sie das CinemaScope-Format benutzt, um eine emotionale Beziehung zwischen Ihren Figuren und deren räumlicher, gesellschaftlicher oder familiärer Umgebung herzustellen. Welche Regisseure und Kameraleute haben das bereits in der klassischen Epoche des CinemaScope versucht?

Tavernier: Otto Preminger ist das in den frühen Szenen von „River of no return“ (Fluß ohne Wiederkehr) gelungen, aber auch George Cukor in „A Star is Born“ (Ein neuer Stern am Himmel), Delmer Daves in „The last is Wagon“ (Der letzte Wagen) oder auch Richard Fleischer in „The Vikings“ (Die Wikinger).

Die Frage nach den Kameraleuten ist schwieriger, denn die standen vor großen technischen Problemen. In der Anfangszeit gab es nur wenige brauchbare Objektive, bestimmte Bewegungen – z.B. Schwenks — konnten sie kaum ausführen. Die Rückprojektionen sahen meist scheußlich aus. Dabei denke ich an die ersten acht bis zehn Filme im neuen Format: Die waren sehr schwerfällig.

Hinzu kam, daß sich das Filmmaterial nicht so schnell belichten ließ und die Ausleuchtung der einzelnen Einstellungen viel aufwendiger wurde. Und das merkt man Filmen wie „The Robe“ (Das Gewand) an: Sie sind sehr, sehr statisch.

Aber die Zahl der Regisseure, die das Format trotz aller Einschränkungen sehr effektiv nutzten, ist überraschend groß. Ich erinnere mich, daß mich gerade die Filme am stärksten beeindruckten, die sich nicht an die Regeln hielten, die man für den Umgang mit dem neuen Format sofort aufgestellt hatte. Und vor allem die Filme, die nicht nur die Breite, sondern auch die Tiefe des Bildraums nutzten. In den ersten Jahren waren es im Wesentlichen spektakuläre, aufwendige Produktionen, die meist an Originalschauplätzen gedreht wurden. Dann zeigte sich, daß sich vor allem Western sehr gut für dieses Format eigneten.

Anthony Mann hat einen der schönsten Filme dieser Zeit inszeniert, „The last Frontier“ (Draußen wartet der Tod). Es ist sehr interessant zu beobachten, wie Henry Hathaway das Format in „Garden of Evil“ (Der Garten des Bösen) und „From hell to Texas“ (Schieß zurück, Cowboy) eingesetzt hat. Seine Inszenierung ist von einer Straffheit und Schärfe, die den Filmen Fritz Langs sehr nahe kommt: Eine Entschiedenheit der Kameraperspektive, die auf alles Lyrische völlig verzichtet. Raoul Walsh ist Ähnliches im Kriegsfilmgenre gelungen, besonders „The Naked and the Dead“ (Die Nackten und die Toten) habe ich in sehr guter Erinnerung. Andererseits gab es auch viele Regisseure, die das Scope-Format überhaupt nicht inspirierte: John Ford etwa, dem es im Normalformat immer wieder gelungen ist, eine starke emotionale Beziehung zwischen den Figuren und dem Dekor, dem Bildhintergrund herzustellen. Aber sein Scope-Film „The long Gray Line“ (Mit Leib und Seele) ist visuell nicht sehr bemerkenswert.

Nicholas Ray ist ein Regisseur, dessen Entwicklung entscheidend von der Einführung des neuen Formats profitierte.

Ich stimme Ihnen zu, obwohl ich beispielsweise einen Film wie „Rebel without a Cause“ (Denn sie wissen nicht, was sie tun) nicht sehr schätze. Visuell erscheint er mir zu sehr als ein Mischmasch und allzu oft gewinnt das Lyrische die Oberhand.

Seine Filme stellen ein interessantes Paradoxon dar: Ihr Tempo wirkt weniger schwerfällig, da er ohnehin dazu tendierte, weniger in der Bewegung, sondern eher auf die Emotionen der Figuren hin zu schneiden.

Unbedingt! Und ich möchte Ray sogar als Beispiel für eine Theorie anführen, die der landläufigen Ansicht widerspricht: Ich bin überzeugt, daß CinemaScope vor allem jenen Regisseuren geholfen hat, für die die Arbeit mit den Schauspielern im Vordergrund stand. Wenn die Bewegungen und Gesten eines Schauspielers sich nicht organisch in eine Einstellung fügen, wenn er also beispielsweise aufsteht und durch einen Raum geht und dabei nicht glaubwürdig ist, merkt man das in einem Scopefilm doppelt so schnell wie in einem anderen!

Ich weiß nicht woran es liegt, aber Scope zwingt zu einer viel stärkeren Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Schauspielern. Daß viele Filme aus der Anfangszeit derart uninteressant sind, liegt nicht allein an ihrer konventionellen Inszenierung, sondern vor allem an der uninspirierten Schauspielerführung.

Selbst einen Schauspielerregisseur wie Elia Kazan stellte das Format vor große Probleme. Seine Schauspielerführung war nie einem strengen Realismus verpflichtet, aber das Scope-Format stellt die Glaubwürdigkeit in besonderem Maße in Frage. Ich denke dabei nicht an „Wild River“ (Wilder Strom), einen sehr schönen Film, sondern an „The Arrangement (Das Arrangement). Obwohl er wunderbare Darsteller wie Deborah Kerr und Faye Dunaway hatte, läßt seine Inszenierung sie manchmal sehr mechanisch wirken.

Das ist ein interessanter Punkt: Ist der Blick auf die Scope-Leinwand schonungsloser? Werden dem Zuschauer Vorgänge bewußter?

Möglicherweise. Vielleicht liegt es daran, daß das Format eher dem menschlichen Auge angepaßt ist. Ich habe den Eindruck, man muß die Figuren deshalb stärker in ihrer Umgebung und im Bildraum verwurzeln. In den Landschaften der Western funktionierte das meist ganz gut.

Später haben einige Regisseure versucht, Scope für intimere, weniger aktionsbetonte Themen zu verwenden. Robert Altman ist das wunderbar in „Mc Cabe and Mrs. Miller“ und „Three Women“ (Drei Frauen) gelungen, auch Sydney Pollack hat die vielfältigen Erzählmöglichkeiten entdeckt.

Interessanterweise führen Sie zwei Regisseure an, die ihre ersten Erfahrungen im Normalformat des Fernsehens gesammelt haben.

Das mag ein Zufall sein... Aber ein weiterer Regisseur, dessen Name sich mir aufdrängt, kommt ebenfalls aus der TV-Schule: Martin Ritt. In „The Molly Maguires“ (Verflucht bis zum Jüngsten Tag) gibt es wunderbare Totalen, in denen er ein Liebespaar bei einem Spaziergang beschaulich die ganze Breite des Bildes durchmessen läßt.

All diesen Regisseuren ist gemeinsam, daß sie es verstanden haben, ihre Figuren in deren Umgebung zu verwurzeln. In „Three Women“ gibt es einige Dekors, die man nie vergißt: Den Swimmingpool, das Wohnhaus und das Apartment von Shelley Duvall... Es ist erstaunlich, wie sehr CinemaScope die Bedeutung des Dekors hervorhebt. Deshalb habe ich es auch für eine kleine, intime Geschichte wie „Une Semaine de Vacances“ (Eine Woche Ferien) verwendet: Es half mir ungemein, den Schauplatz, Lyon, zu beschreiben. Obwohl es in dem Film nur wenige Außenszenen gibt, bekommt man doch ein stimmiges Bild der Stadt.