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Von Titograd nach Podgorica

Neue und alte Weltbilder. Die Welt verändert sich, die Atlanten hecheln hinterher. Ein Einblick in die Probleme der Kartographie in bewegter Zeit und eine Übersicht über die zur Zeit erhältlichen Atlanten  ■ Von Bert Hoffmann

Nichts ist älter als der Atlas von gestern, lästerten böse Zungen; unter der Last der Weltpolitik stürzten in den letzten Jahren renommierte Kartenwerke zusammen wie Kartenhäuser: „Grenzen und Staaten entnehmen Sie bitte der Tagespresse.“ Noch heute bekommt, wer sein Geld etwa in den großen „Brockhaus Enzyklopädie Weltatlas“ investiert, die UdSSR und Leningrad geliefert, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik und eine Europakarte ohne Slowenien.

„Sie müssen bedenken, daß diese Veränderungen ja in 30 bis 40 Karten mit hineingreifen“, verteidigt sich Dr. Hanle, der Leiter des Geographisch–Kartographischen Instituts Meyer, das auch den Brockhaus-Atlas erstellt. „Bei einer Italienkarte ist unweigerlich ein Stück Jugoslawien mit drin, also müssen wir auch da Slowenien und Kroatien neu einarbeiten. Die politischen Veränderungen sind einfach so schnell über die Bühne gegangen, daß wir mit den Korrekturen nicht nachkommen.“

Daß die kleineren Meyer-Atlanten mit schreiend roter Banderole „Mit den neuen Ländergrenzen in Mitteleuropa!“ auf den Markt geworfen werden, ändert daran nichts. Es ist allenfalls Beweis dafür, wie schnell in diesen Zeiten auch das Wort „neu“ veraltet: Deutschland vereinigt, und Chemnitz heißt wieder Chemnitz – okay. Und die Sowjetunion heißt noch Sowjetunion, und Zagreb liegt in Jugoslawien – oje...

So wird hier nun eifrig korrigiert und eingearbeitet, auf daß im Herbst zumindest der Prestige-Atlas der Brockhaus-Enzyklopädie in aktueller Fassung vorliegen möge. (Die ganzseitige „Ostpreußen“-Karte wird dort allerdings genauso drin bleiben wie die zu „Schlesien“, versichert Dr. Hanle.) Andere Verlage haben resigniert. Herder etwa, bis vor kurzem noch mit einem Atlas in der mittleren und einem in der gehobenen Preisklasse im Geschäft, ist ganz aus dem Wettlauf mit der Welt ausgestiegen. Die Atlanten wurden nicht aktualisiert, und „zur Zeit sind keine Neuausgaben geplant“, so die knappe Auskunft des Verlags.

Dabei sind die jüngsten politischen Umwälzungen nachgerade ein Segen für die Branche. Wer kauft sich schon einen neuen Atlas, nur weil Rhodesien fortan Simbabwe heißt oder weil die territorialen Ansprüche in der West-Sahara sich geändert haben? Doch wo halbe Kontinente neue Gestalt annehmen und sich die eigene Heimat in neuen Grenzen wiederfindet, bedarf es keines Marketing- Genies, um die Nachfrage zu wecken.

Die Atlanten des RV-Verlags, die relativ preiswert daherkommen, sind der Renner. Sie strotzen schier vor Aktualität: Seit Oktober 92 auf dem Markt, ist auf ihren Karten sogar schon die erst Ende Dezember vollzogene Teilung der Tschechoslowakei eingetragen.

Auch der „König der Atlanten“, der acht Pfund schwere „Knaurs Großer Weltatlas“ im Riesenformat und zu wahrhaft königlichem Preis, wartet bereits mit einer komplett aktualisierten Fassung auf. Und seine um einiges preiswertere Konkurrenz, der exzellente „Internationale Atlas“ von Rand McNally und Westermann (von der Stiftung Warentest vor fünf Jahren zum „fachlich besten Großatlas“ gekürt), kommt jetzt im Februar in einer Up-to- date-Ausgabe in die Buchläden.

Gleichwohl, ein aktualisierter Atlas ist noch kein neuer Atlas. Noch in keinem der bislang erhältlichen Atlanten sind den Umwälzungen in der Welt bereits entsprechende Veränderungen in der Konzeption der Karten gefolgt. Zum Beispiel das Prunkstück, der Große Knaur: in seiner Wahl der Kartenmaßstäbe ist der Ost-West- Konflikt so präsent wie eh und je. So ist das politische „Westeuropa“ von Reykjavik bis Kreta (mit Ausnahme Skandinaviens) komplett im großen Maßstab von 1:1.250.000 oder größer abgebildet. Hingegen muß ganz „Osteuropa“ ab Bautzen, Budapest und Belgrad mit einem gerade einmal halb so großen Maßstab auskommen. Daß Ungarn um einiges dichter besiedelt ist als Island – egal, der Westen ist wichtiger. Und die drei baltischen Staaten – die eben noch keine waren, als der Atlas konzipiert wurde – verlieren sich ganz in der großen Karte, die einst „Westliche Sowjetunion“ hieß und im vergleichsweise kleinen Maßstab 1:5.000.000 von Kaliningrad bis Kasachstan reicht.

So bieten auch die aktualisierten Atlanten ein jeweils recht verschiedenes Bild der Welt. Zum Beispiel jenes 130.000-Einwohner- Städtchen, 40 Kilometer von der Adria-Küste entfernt, das einst die Ehre hatte, nach dem großen jugoslawischen Marschall benannt zu werden: In der Europa-Karte der RV-Atlanten markiert ein kleiner schwarzer Doppelkreis den Ort namens „Titograd“, gelegen inmitten der grünen Fläche des Staates Jugoslawien. Ganz anders die politische Europa-Karte im neuesten Diercke-Schulatlas. Der gleiche Fleck heißt hier „Podgorica“ (man ahnt: auch der Stadt Titos hat, wie der Lenins und der von Karl Marx, die Stunde der Rückbenennung geschlagen.) Der Punkt ist leuchtend rot (die Zeichenerklärung verrät: roter Punkt = Hauptstadt; und im „Diercke“ ist man resolut: Bonn ist schon nicht mehr verzeichnet, nur noch Berlin.) Schließlich das Land um Podgorica herum, mit roten Grenzlinien umrandet: „Montenegro“. Optisch ist hier bereits die Unabhängigkeit vollzogen, die politisch noch gar nicht gefordert wird. Elegant rettet lediglich eine kleine Fußnote in der Zeichenerklärung den ansonsten kühnen Vorgriff auf die politische Entwicklung: hinter „rote Linie = Staatsgrenze“ ist in Klammern „von Jugoslawien auch Republikgrenze“ gesetzt – in bewegten Zeiten spielt auch der Schulatlas mit Netz und doppeltem Boden.

Überhaupt der Diercke: Wie kein anderes Werk prägt dieser Atlas das Weltbild deutscher Schüler und Schülerinnen, seit Generationen. Die Auflage ist so hoch, daß er jedes Jahr neu gedruckt wird – in jeweils aktueller Fassung. „Die Eröffnung des Main-Donau- Kanals oder der Kanaltunnel zwischen England und Frankreich – solche Dinge tragen wir von einem Jahr auf das andere neu ein“, erläutert Dr. Ulf Zahn, Chefkartograph des Westermann-Schulbuchverlags, der den Erfolgsatlas herausbringt. „Für die Ausgabe, die in vier Wochen in Druck geht, arbeiten wir gerade das Tankerunglück vor den Shetlandinseln ein.“ Die neue Welt – für den Diercke also eine Routineübung? Mitnichten: „Durch die deutsche Einheit mußten 160 Seiten im Atlas korrigiert und angepaßt werden! Mit der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens ungefähr 100 Seiten, jetzt bei der Tschechoslowakei noch einmal 60 Seiten! In dieser Dimension ist das natürlich ungewöhnlich – und natürlich sehr kostenträchtig.“

Bei aller Aktualisierung – auch der Atlas, mit dem an der Mehrzahl der Gymnasien zwischen Freiburg und Stralsund unterrichtet wird, ist noch in der fernen Vergangenheit von BRD und DDR konzipiert worden. Doch was der Westermann-Verlag hier knapp zwei Jahre vor der deutschen Einheit herausgegeben hat, erweist gerade im nachhinein eine bemerkenswerte „Haltbarkeitsdauer“. Sicher, die Schaukarte über die „Arbeitslosigkeit und Binnenwanderung“ in Deutschland wird belanglos, wenn die fünf neuen Länder mangels stabiler Daten weiß bleiben. Doch zum Thema „Großwohnsiedlungen“ etwa wird schon 1988 dem westlichen Wohnwahn in München-Neuperlach sein realsozialistisches Pendant in Berlin- Marzahn gegenübergestellt. War früher die „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ in der DDR drei kleine Kärtchen auf einer Drittelseite wert, wird die LPG Gröningen auf einer kompletten Seite exemplarisch und en détail aufgerollt. Quasi als Krönung dann die Hauptstadtfrage, drei Jahre vor jener denkwürdigen Bundestagsdebatte zum Thema: Hatte im Atlas der 70er Jahre noch Bonn eine üppige anderthalbseitige Karte im Riesenmaßstab spendiert bekommen, ist diese in der '88er-Ausgabe auf eine Viertelseite geschrumpft – und Berlin von einer auf zwei ganze Seiten expandiert.

Doch auch im internationalen Teil steht der Diercke fünf bewegte Jahre nach seinem Erscheinen überraschend zeitgemäß da. Die 1988 neu aufgenommene Karte „Vielvölkerstaat Sowjetunion“ zum Beispiel brauchte nur umbenannt zu werden in „Die Völker in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ – ihr Inhalt jedoch trifft genau ein Thema, das eben diesen Zerfallsprozeß und seine gegenwärtigen Konflikte erst verstehbar macht. Gleiches gilt für die detaillierte Karte zur ethnischen Gliederung Jugoslawiens, die erst einige Jahre nach ihrer Aufnahme in den Diercke-Atlas zu der bekannten Tagesaktualität kam. „In so einem Schulatlas greift man bestimmte Problemgebiete der Erde als Musterbeispiele auf“, erklärt der Diercke-Kartograph Dr. Zahn dazu. „Der Balkankonflikt ist ja ein über Jahrhunderte schwelender Konflikt.“ Ein bunter Flickenteppich auf der Karte, ein blutiger, elendiger Krieg. Der professionelle Stolz des Kartographen wird fast verschluckt von beklemmender Hilflosigkeit, wenn er hinzufügt: „Und da hat man dann das Gefühl, daß man das richtige Beispiel gewählt hat.“

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