piwik no script img

Napo Dynamite ist Franz Kafka

■ Elvis Costello und das Brodsky Quartet schicken ihre „Briefe an Juliet“ in die Hochschule der Künste

Darf man nach Erfindung des Faxgeräts noch Briefe schreiben? Und sie von fahrenden Boten durch die Lande befördern lassen? Man darf, aber eigentlich müßte es aus Rationalisierungsgründen längst verboten sein. Nicht einmal die neuen Postleitzahlen aber werden Romantiker davon abhalten, handgeschriebene Analog-Liebesbriefe zu versenden. Ein Liebesfax? Niemals!

Kommende Generationen aber werden sich über uns wundern, wenn sie von unserer Zuneigung zu Schallplattenspielern, Schreibmaschinen und nichtelektronischen Briefträgern hören. Und vielleicht werden sie sich auch über Elvis Costello wundern, der 1993 auf seiner Platte „The Juliet Letters“ handgeschriebene Briefe mit einem Streichquartett in Musik verwandelt.

Als sei man auf dem verschneiten Weg zu einer Lesung von Franz Kafka, der seine Briefe an Milena vortragen will und sich dazu plötzlich eine E-Gitarre umhängt. So oder ähnlich fühlt man sich, als man nach Jahren der Warterei auf ein Elvis-Costello-Konzert nicht Napo Dynamite (eines seiner diversen Pseudonyme) und seine Band „The Attractions“ erwarten darf, sondern Elvis Costello und das „Brodsky Quartet“. Aber hatte ich nicht sogar weiland meiner Lieblingsgruppe Deep Purple nachgesehen, daß sie eine Platte mit den Londoner Symphonikern aufgenommen hatten? War „Child In Time“ nicht trotzdem ein Klassestück geblieben?

Jetzt also Costello, mit drei Geigern und einer Cellistin auf der Bühne einer Hochschule der Künste. In einem etwas zu weiten Jackett – aus den Ärmeln ragen gerade noch die Finger heraus – steht er da, einen Notenständer vor sich, eine große Mappe mit seinem Text in der Hand. Und tatsächlich: Costello singt. Singt mit seiner schrecklich eigenartigen Stimme diese Briefe. Und dieses Streichquartett „musiziert“ dazu.

Das Gefühl, Geigen in Gitarren verwandeln zu wollen, schwindet mit jedem von der Bühne versandten Brief. Costello macht schon mit der ersten Ansage deutlich, daß es ihm zwar Ernst ist mit dem Brodsky-Streichquartett, daß er aber durchaus über seinen Ernst lachen kann. Zu jedem Brief erzählt er eine kurze, meist ironische Geschichte. Ein Selbstmörder rechnet mit seiner Frau ab: „Wer immer diesen Brief lesen wird, mein Leben war zu lang.“

Dem pseudodramatischen Abschiedsbrief folgt das Schreiben einer „alten Tante“. „Denn nicht alle Menschen, die Briefe schreiben, sind nett“, merkt Costello sarkastisch zu „I Almost Had A Weakness“ an. Die vom „Brodsky Quartet“-Mitglied Michael Thomas und Costello komponierte Nummer, die Costello noch ein wenig mit Tangoschwung nachwürzte, wird zum schmissigen Klassik-Hit, später als sechste oder siebte Zugabe umjubelt gleich nochmal zu hören. Die Geigen und das Cello werden gezupft wie Harfen, jaulen trotzig auf, wenn Costello emphatisch singt: „Ich werfe deine Blumen ins Feuer. Ich verbrenne deine Fotos.“

Kaum sind knappe dreißig Minuten Briefverkehr vorbei, eine Plattenseite, verabschieden sich Costello und die vier Brodskies zur Pause. Ein wenig zu schnell, denn gerade hatte man sich mit dem anderen Costello ein wenig angefreundet, hatte dieser die ersten zierlichen Tanzversuche unternommen und die Texte mit ausladenden Armbewegungen ausgedeutet.

Die Frau neben mir erzählt, sie habe Costello schon 1978 im Kant- Kino gesehen. Dem Rebellen von einst klatscht sie frenetisch auch zu seinen Briefen Beifall, so als seien sie alle an sie. Bei jedem Hieb ihrer Hände wird eine Dosis Parfum frei. Costello schlüpft derweil immer mehr in seine Rolle. Biegt seinen Körper nach hinten, als hätte er Angst, sein Organ könne die Zeiger des Mischpults übers Ziel hinausschießen lassen. Für einen Abend wird er zum Sänger mit den Streichern. Irgendwer was dagegen einzuwenden?

Nach dem letzten Brief ist noch lange nicht Schluß: Costello und seine „Band“ werden immer wieder durch heftigen Beifall auf die Bühne getrieben. Verbeugen allein aber ist nicht. Sichtlich amüsiert erzählt Costello also wieder und wieder, die Musiker hätten gerade heute noch ein neues Stück fertiggestellt.

Ein bißchen enttäuscht ist die Dame neben mir dann aber doch: ein paar alte Nummern, klassisch verfremdet, hätten doch drin sein müssen, bei so vielen Zugaben. Aber klassische Rebellen gibt es halt nicht mehr. Andreas Becker

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen