: Batsman schlägt zurück
Der Australier Allan Border hat einen Weltrekord im Cricket aufgestellt, nur: Was macht diesen skurrilen Sport so faszinierend? ■ Von Bernd Müllender
Cricket, verrät das Lexikon, ist ein englisches „Fang- und Rückschlagspiel zw. 2 Mannschaften“. Die Grundregeln lauten etwa so: Einer wirft das schlagballähnliche Spielgerät Richtung Ziel, ein kleines Gerüst aus Holzstangen, wicket genannt. Der gegnerische batsman versucht dieses mittels wuchtigen Holzknüppels (bat) zu verteidigen. Einerseits. Andererseits ist er bemüht, den Ball möglichst weit wegzudreschen, damit er runs machen kann: ein abgestecktes Stück Wegs (20,12 Meter) laufend zurückzulegen. Solche „Läufe“ zählen fürs Ergebnis. Gemeinerweise aber stehen rund um den batsman viele Gegner, die die weggeschlagenen Bälle entweder aus der Luft zu fangen trachten (catch) oder ihnen hinterherlaufen, um sie behende zurückzuwerfen gegen das runhalber verlassene wicket. So das eine oder andere gelingt, ist dem batsman die Schmach des sofortigen Ausscheidens beschert. Zehn batsmen hat jedes Team; sind alle raus, dürfen sie sich selbst werfend versuchen. Das Werfen-Schlagen-Fangen- Laufen-Spiel dauert pro Tag sechs bis sieben Stunden.
Nun gilt es von einem Weltrekord Bericht zu erstatten. Der leicht übergewichtige Allan Border, Kapitän der australischen Nationalmannschaft und mit 37 Jahren eine Art elder batsman seiner Zunft, hat ihn beim Länderspiel im neuseeländischen Christchurch gegen die Kiwi-Erzrivalen aufgestellt: 10.161 runs. Das bedeutet, er hat in den 15 Jahren seines batsman-Daseins so klug und geschickt, knallhart und gefühlvoll die Kugel hinfortgedroschen, -gekegelt, -gekullert und -kanoniert, daß er 10.161mal ans Laufen kam. Mit seiner Bestmarke überbot er den früheren indischen Star Sunil Gavaskar, der am Ende seiner Schlägerkarriere bei 10.122 runs war. Und Borders Karriere ist noch nicht am Ende, ein Rekord- Konkurrent auf Jahre nicht in Sicht. Die Australier sprechen von einem der größten Sportler in der Geschichte des Landes.
Es gibt nun Menschen, die halten Cricket für einen Unfall der Sport-Evolution. Andere sehen reichlich Gründe zum Lästern: Die merkwürdig verrenkte Wurftechnik, der Bauchansatz mancher Spitzenkräfte, die obligatorische Teepause pünktlich um 16 Uhr (egal wie spannend es gerade ist), das obszön wirkende Reiben des Balles im Schritt (gibt angeblich Extraspin) und das krasse Mißverhältnis bei Länderspielen, den test matches, die über fünf volle Tage gehen und doch mehrheitlich remis enden. Andere erklären Cricket für ein mehr zufälliges Abfallprodukt des britischen Kolonialismus. Worin Wahrheit liegt: In die Karibik etwa war es den Besatzern zu heiß zum Laufen und Werfen, und so lehrten sie die Untergebenen das Werfen, damit diese die formidablen batsman-Künste ihrer Herrn testen konnten. Kurzfristig folgte eine baldige Verbreitung des Spiels in den damaligen Weiten des Commonwealth; langfristig wurden die Urenkel der Sklaven aus den West Indies, der gemeinsamen Mannschaft der Karibikstaaten, zu den heute weltweit gefürchtetsten Werfern.
An Cricket werden sich die Geister immer scheiden. Uns Kontinentaleuropäer etwa mutet es reichlich langweilig an, wenn die Taktik nicht selten darin besteht, möglichst wenig passieren zu lassen, und wenn stundenlanges Warten damit genutzt wird, ein Spiel in die absonderlichsten Detailstatistiken zu zergliedern. Den anglophilen Menschen gefällt das, auch in Australien, wo mit dem Melbourne Cricket Ground, dem legendären MCG, das weltgrößte Stadion mit Platz für 120.000 Menschen steht. Das MCG beherbergt ein ältestehrwürdiges Museum, das etwa erklärt, wie das Spiel von diversen Lords und anderen Blaublütern (etwa dem indischen Prinzen Ranjitsinhij mit seiner „unheimlichen, niemals wieder erreichten Treffsicherheit“) seinen Weg zum gemeinen Volk fand.
Zum MCG-Tempel gehört auch eine Bibliothek mit rund 9.000 Cricket-Fachbüchern. Prunkstück: ein Lexikon-Original („Wörterbuch der französischen und englischen Zunge“) von 1611, das die älteste Überlieferung vorzeitlicher Cricket-Künste dokumentiert. Tradition total. Und das mit nur marginal veränderten Regeln bis heute. Was ist dagegen schon neumodischer Fußball?
Allan Borders Bestleistung war eine Art Wiedergutmachung für die Aussies. Der lange erwartete Weltrekord des reaktionsstarken Routiniers (Flugzeit des Balles bisweilen nur 0,4 Sekunden) entschädigte für manch deprimierenden Moment in dieser Saison: Anfang Dezember war Pakistan, der Weltcupsieger 1992, zu einem Eintagesspiel zu Gast. Überraschend führte Australien vor dem allerletzten von 600 Würfen mit sechs runs. Nur ein weiter Schlag des pakistanischen batsman bis ins Publikum, der eben genau sechs Punkte zählt, konnte den Sieg noch entreißen. Eigentlich eine Unmöglichkeit. Doch genau dies, fast so selten wie beim Fußball ein Eigentor aus der gegnerischen Hälfte, passierte: Der Ball flog fast noch über die Tribünendächer. Solche mitreißenden Dramen sind es, die auch in commonwealthfernen Sportsfreunden Bewunderung, ja Euphorie für dieses bemerkenswerte Spiel entfachen können.
Oder jener Tag Ende Januar, als beim Fünftagematch der Australier mit den West Indies noch zehn runs zum Sieg fehlten, noch fünf, vier, drei, zwei, schließlich ein einziger. Und dann unterlief dem australischen Keulenschwinger, nach fast 30 Stunden Spielzeit, jene einzige Hundertstelsekunde Ungeduld, eine Winzigkeit an falscher Bewegung – der Ball ward gestreift, er wird gefangen, der batsman ist raus, das Spiel aus. Welche Tragik, welche Trauer. 30 Stunden Aufmerksamkeit, ob im Stadion oder am Fernseher, für einen einzigen Moment, den entscheidenden, das mag viel erscheinen. Aber der erfahrene Cricket-Freund weiß intuitiv, wann er mal einen halben Tag Pause machen kann. Meistens.
Cricket ist das Spiel der Geduld. Vermeintliche Langeweile läßt sich auch mit Muße übersetzen. Ein Kontrapunkt zu den hektischen Disziplinen, die unsere kurzlebige Welt sonst so sehr beherrschen. Raffinierte Taktik zählt und intelligente Strategien. Selbst das Wetter – wen wundert's bei den Briten als Erfindern – kann Spiele entscheiden. Bei Regen nämlich gibt es Pausen, die nicht nachgespielt werden. So läßt sich durchaus auf eine nahende Gewitterfront spekulieren. Bei Allan Borders runs-Rekord führte Australien haushoch gegen Neuseeland. „Jetzt kann uns nur noch ein Dauerregen das Unentschieden retten“, schrieb ein Kiwi-Kommentator. Die Wolken waren fair – es blieb trocken.
Manche Spiele scheinen früh entschieden, weil den einen einfach nichts gelingen will. Doch Cricket kennt keine zwischenzeitliche Relativität. Die Regeln in ihrer scheinbaren Unübersichtlichkeit sind so verblüffend raffiniert, daß mit nur wenigen grandiosen Würfen (oder Schlägen, oder catches) ein Match völlig gekippt werden kann. So sind selbst gewagteste Prognosen (und Wetten) immer möglich. Und Cricket ist nachgerade tragisch gemein, voll schwarzen Humors: Jeder batsman kann, manchmal stundenlang, noch so triumphierend treffen – seine letzte Aktion ist immer ein Fehler und bedeutet gnadenlos sein Aus. Auch bei Allan Border: Der Moment, als sein neuer Weltrekord in Zahlen feststand, war genau der, in dem die Neuseeländer endlich sein wicket abgeschossen hatten.
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