: Bebilderung wichtiger Transformationen
Pünktlich zu Stalins 40. Todestag startet im Babylon die Filmreihe „Timebreak“ ■ Von Oskana Bulgakowa
Das Babylon startet eine neue Filmreihe. „Timebreak“ soll sie heißen, durch Zeiten und Länder führen und eines beschreiben: die Stimmung eines Einzelnen danach – nach der Katastrophe, nach Revolution, Krieg, Umbruch – nach allem, was als Ereignis in die Geschichte eingeht und wofür uns in der postmodernen, -historischen Zeit das Empfinden bereits entgangen war. Nun plötzlich mischte sich die Geschichte wieder als Ereignis ins Leben ein, der Einzelne wurde mit ihr unmittelbar konfrontiert und wußte gar nicht, wohin mit ihr und sich selbst. Vielleicht dachte Timothy Grossman, der diese Reihe initiierte, an solche Stimmungen in Deutschland heute und wollte ihnen einige historische Spiegelbilder entgegenhalten – französische, amerikanische, japanische, russische. Die Reihe mag in kollektiver Psychotherapie Erschütterungen, Desillusionierungen, Ungewißheit, Frustration des in den Trümmern der Geschichte verlorenen Einzelnen kurieren helfen. Begonnen wird sie mit den russischen Bildern von Umbrüchen, größten kollektiven Erschütterungen, die den Einzelnen allerdings lange Zeit aus dem Sucher des Filmobjektivs ausgelassen haben. Es ging um das Schicksal von Millionen, um die Ornamente der Massenbewegung, in denen dieser Einzelne sich verlor und erst viel später mit seinen individuellen anderen Empfindungen bemerkt und beachtet wurde. Es ging ja um die Synchronisation der Gefühle, und viele nahmen das als eine Bereicherung wahr.
Das Filmprogramm im Babylon ist heterogen – Wochenschauen sollen auf künstlerische Verklärungen prallen, Zeitreflexionen durch spätere Romantisierung oder Sarkasmus relativiert werden. Umbrüche, die aus der Thematik der gewählten Filme auf die heutigen Zuschauer einströmen, sind einleuchtend: zweimal Revolution, einmal 1905 und 1917, für die Eisensteins „Streik“, „Oktober“ und Klimovs „Agonie“ stehen. Kollektivierung, Industrialisierung und Kirchensprengung, die in pathetischen und romantischen Mythen aus Dowshenkos „Erde“ und Wertkows „Donbass-Symphonie“ kommen. Überpräsent sind Bürgerkrieg („Die Kommissarin“, „Sklavin der Liebe“ und „Leuchte mein Stern, leuchte“) und der Zweite Weltkrieg („Die Kraniche ziehen“, „Aufstieg“, „Geh und sieh“). Ahnungen um die atomare Katastrophe (real im Dokumentarfilm über Tschernobyl oder in Science-Fiction-Gestalt als „Briefe eines Toten“) fehlen nicht. Da die Reihe an Stalins 40. Todestag eröffnet wird, bilden die Visionen junger Regisseure zu den merkwürdigen Metamorphosen der stalinistischen Geschichte – als Tragifarce, Melodram und absurde Komödie („Prischwins Papieraugen“, „Und morgen war Krieg“, „Die Stadt Zero“) gleichsam ihren konzeptionellen Höhepunkt. Und zwei Dokumentarfilme – über Lenins Tod („Drei Lieder über Lenin“) und das Begräbnis Stalins (ungeschnittene Dokumentarfilme, leider nicht der damals verbotene Farbfilm „Langer Abschied“) stehen für den Ausgangspunkt.
In „Drei Lieder über Lenin“ sammelte Dsiga Wertow 1934 die neue Folklore des sowjetischen Orients. In dieser orientalischen Metaphorik wird Lenin zum Heiligen stilisiert. Verschlüsselt über die Bilder des Wassers, das die Wüste bewässert, des Lichts, das aus der Wasserkraft des Dnjepr gewonnen wird, über seine Schriften, die die Wahrheit verkünden. Diese Verwandlung – das Trockene wird feucht, das Unfruchtbare fruchtbar – bebildern die wichtigste Transformation: der tote Lenin, dessen Begräbnis Wertow 1924 dokumentar gedreht hatte, wird zum Lebendigsten aller Menschen erklärt, auf dessen Gesundheit (!) Stalin 1936 anzustoßen vorschlägt. Im Unterschied zu Wertows Lenin-Film mußte der Film über Stalins Begräbnis nichts mehr symbolisieren, diese Arbeit war vollbracht, die Ikonographie geschaffen, die Rituale waren erfunden. Der Film ist dokumentarisch: er zeigt das Begräbnis und die Welt (zwischen Korea, Mexiko, der Berliner Stalinallee) in Trauer. Und in diesem Sinne ist er materialistischer als Wertows Film: Gott ist gestorben, also war es wahrscheinlich kein Gott. Der Dokumentarfilm, der von vier Spielfilmregisseuren (Alexandrow, Tschiaureli, Gerassimow, Romm) geschnitten wurde, wurde allerdings verboten und nie aufgeführt. Zunächst wollte man das Volk nicht noch einmal traumatisieren, dann wurde Berija verhaftet, und die Erinnerung an ihn sollte nicht mit einem Film wiederbelebt werden.
Historisches Gedächtnis und individuelles Schicksal: „Der Mann, der sein Gedächtnis verlor“ beschreibt den Weg eines Einzelnen, der individuell den Umbruch – asynchron zur Zeit – nachvollziehen mußte. Der Held verlor im Ersten Weltkrieg das Gedächtnis, zehn Jahre später erwacht er und versteht nicht, was in seiner „Abwesenheit“ mit der Welt geschah. Die traumatische Rückkehr führt über Verunsicherung zur Zuversicht: der Held erwacht als Sklave und wird am Ende zum Herrn, zum proletarischen Hegemon. Friedrich Ermler, der sich als Schüler von Freud und Eisenstein verstand, inszenierte diese optimistische Parabel 1929 mit der Montage-Raffinesse der späteren Stummfilme.
Die Sicht der jungen Regisseure von heute auf die Geschichte von damals, die sie nur aus Überlieferungen – auch aus filmischen – kennen, bilden einen provokativen Kontrapunkt zum historischen Teil des Programms. In „Prischwins Papieraugen“ wird Eisenstein angegriffen: Die Matrosen des „Panzerkreuzer Potemkin“ veranstalten ein Gericht über dessen Fälschung der Geschichte. „Die Stadt Zero“ ist ein persiflierendes Potpourri aus sowjetischen Historienfilmen. Angst speist die Phantasie über die Zeit. An dieser Angst gingen die Helden damals zugrunde, und der Film erscheint als Phobie der heute Vierzigjährigen gegenüber dem Totalitarismus, ausgelebt in einer Farce. Die Geschichtstraumata werden als karnevalistische Spiele ausgegeben, in denen die Gewänder und Masken ebenso wie das Hohe und das Niedere die Plätze tauschen. Der Karneval wird in den Filmen der Jungen thematisiert, um herauszufinden, wie aus einer Utopie (Sozialismus) die Anti-Utopie werden konnte. Doch die Jungen, die diese Realität nur noch von verrosteten Monumenten und aus fremden Zelluloid-Visionen kennen, stehen vor der Geschichte wie vor einer gemalten Filmdekoration und können nicht zu deren „Fleisch“ vordringen – trotz des vielen vergossenen Filmbluts.
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