Soldaten als Sparschweine

Immer neue Sparschnitte im Verteidigungsetat sorgen für Chaos in der Bundeswehrplanung/ Abschaffung der Wehrpflicht?  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Bonn (taz) – Deutsche Soldaten zu Kampfeinsätzen in aller Welt: das ist die Theorie. Die Realität ist das ständige Kofferpacken zwischen Flensburg, Olpenitz und Kiel. In einem offenen Brief an seinen Parteifreund Volker Rühe beschwerte sich kürzlich der schleswigsche CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Börnsen bitterlich.

Die jüngste Entscheidung des Verteidigungsministers, den Marinestützpunkt Olpenitz aufzulösen und die Soldaten nach Kiel zu verlegen, habe in Olpenitz „Verbitterung, Verzweiflung und Verärgerung“ ausgelöst. Zum Teil erst vor wenigen Monaten seien einige von ihnen mitsamt der Familie vom aufgelösten Standort Flensburg nach Olpenitz umgezogen. Daß nun auch Olpenitz aufgegeben werde und ein weiterer Umzug anstehe – das sei doch kaum noch zu vermitteln.

Die deutschen Soldaten fühlen sich mißbraucht: als Sparschweine der Nation. Seit Finanzminister Theo Waigel im Januar den ohnehin geschrumpften Verteidigungsetat für 1993 überraschend um weitere 860 Millionen beschneiden ließ und damit die erst im Dezember von Rühe vorgestellte Bundeswehrplanung zur Makulatur machte, schwanke die Stimmung in der Truppe „zwischen offener Empörung und stiller Resignation“, protestierte unlängst der Hauptpersonalrat beim Verteidigungsministerium.

„Bei mir stapeln sich die Briefe verzweifelter Soldaten“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Vera Wollenberger. Selbst Wollenberger, als Grüne eigentlich uneingeschränkte Befürworterin einer stark abgespeckten Truppe, warnt inzwischen vor allzu hastigen Entlassungen bei der Bundeswehr. Auf einer Veranstaltung im Bundesland Sachsen hörte sie schon warnende Worte des dortigen Bundeswehrverbandes: „Die ,Republikaner‘ warten nur auf militärische Berater“, drohten die Soldaten.

Während Rühe erst in einigen Monaten sein neues Konzept für eine billigere Bundeswehr vorlegen will, hat der ehemalige Luftwaffengeneral und SPD-Abgeordnete Manfred Opel schon vorausgedacht. Viel zu lange, so Opels Urteil, habe die Hardthöhe an ihrer überdimensionierten Streitkräfteplanung festgehalten. Heute dienen in der Bundeswehr noch über 400.000 Soldaten. Bis Ende 1994 muß die im Zwei-plus-vier- Vertrag vereinbarte Obergrenze von 370.000 erreicht werden, nur noch gut halb soviel, wie Bundeswehr und NVA zuvor gemeinsam unter Waffen hatten. Insgesamt verfügt die Nato jedoch Ende 1995 in Europa immer noch über 2,8 Millionen Soldaten.

„Wozu?“ fragt sich Opel. „Wir sind von Freunden umzingelt.“ Selbst Experte Rühe schließt in seinen jüngsten „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ einen russischen Aufmarsch „auf absehbare Zeit aus“. In jedem Fall, so schreibt die Hardthöhe, bliebe eine „militärisch nutzbare Warnzeit von mindestens einem Jahr“. Die Aufgaben, die auf die Bundeswehr in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zukommen könnten, UNO-Missionen inklusive, lassen sich nach Opels Analyse auch mit einer weit kleineren Armee bewältigen: mit einer 200.000-Mann-Bundeswehr, die nur noch im Bedarfsfall durch Reservisten aufgefüllt werden müsse.

Diese schlanke Bundeswehr käme mit jährlich 40 Milliarden Mark um zehn Milliarden billiger als die Truppe von heute. Zwei Voraussetzungen wären hierfür aber unabdingbar. Die Krisenreaktionskräfte (KRK), die Opel nicht für out of area-Missionen, wohl aber für Einsätze innerhalb des Nato-Gebietes vorhalten möchte, sollten auf eine immer noch stattliche Größe von 50.000 Mann beschränkt werden. Und die obligatorische Wehrpflicht müßte fallen.

Mit dieser Ansicht steht Opel in seiner Partei noch ziemlich alleine. Doch unter Verteidigungsexperten gibt es kaum noch einen, der dem Zwangsdienst bei der Bundeswehr noch eine lange Lebensdauer prophezeit. „Wir brauchen gar nichts mehr zu tun“, frohlockt der FDP-Abgeordnete und Wehrpflichtgegner Jürgen Koppelin. In der Tat, so meint auch Opel, sei alles eine simple Rechenaufgabe. Wollte man ein Minimum an Wehrgerechtigkeit aufrechterhalten, müßte die Dauer des Wehrdienstes in einer Armee von 200.000 Mann auf drei Monate sinken – offensichtlicher Unfug. Auf der Hardthöhe sehen das viele inzwischen genauso. Laut sagen möchte es allerdings keiner, um nicht schon wieder Unruhe in die Truppe zu bringen. Zum Ende des Jahrzehnts jedoch, so Alfred Biehle, der Wehrbeauftragte des Bundestages, „könnte es soweit sein“.

Schon registriert Opel auf der Hardthöhe wachsendes Interesse für sein 200.000-Mann-Konzept: „Das brennt sich ein.“ Nur wenn es gelingt, die Personalausgaben drastisch zu reduzieren, das weiß man auch im Verteidigungsministerium, werden trotz schrumpfender Wehretats wieder Mittel für Investitionen in die Rüstung frei. „Lieber eine kleine schlagkräftige Armee“, sagt Opel, „als eine große, die nichts taugt.“

Trotz des von Rühe lauthals verkündeten Auftragsstopps läuft auch in diesem Jahr die Beschaffung von Rüstungsmaterial munter weiter. Geltende Verträge mit der Industrie müssen eingehalten werden, und so gibt Rühe in diesem Jahr laut Haushaltsplan allein für neue Minenjagdboote 225 Millionen Mark aus. Die großen Beschaffungsvorhaben, vor allem zur Ausstattung der neuen schnellen Eingreiftruppen, stehen in den nächsten Jahren erst noch an. Und da geht es nicht nur um das neue Jagdflugzeug, über dessen Beschaffung der Minister 1995 entscheiden will. Für die neue U-Boot-Generation U212, die ab 1998 in Dienst gestellt werden soll, will das Verteidigungsministerium noch in diesem Jahr den ersten Kaufvertrag über vier Stück für 2,5 Milliarden Mark abschließen. Außerdem auf der von Rühe noch im Dezember gebilligten Einkaufsliste: Fregatten, Korvetten und über 100 neue Hubschrauber des Typs „Tiger“.

Nur wenige, wie die SPD-Abgeordnete Katrin Fuchs, zweifeln an dem Modernisierungsbedarf der Bundeswehr. Verfüge die Bundesrepublik nicht heute schon nach Rühes eigenen Worten über „die modernsten Landstreitkräfte der Welt“? Der Rüstungsetat käme jährlich auch mit 30 Milliarden Mark aus, glaubt Fuchs, würde man nur darauf verzichten, die Krisenreaktionskräfte „aufzublähen“. Auch Wollenberger warnt davor, die neuen Eingreiftruppen nun bevorzugt mit modernem Material auszurüsten. „Das würde auf die Schaffung einer Elitetruppe hinauslaufen“, fürchtet die grüne Abgeordnete: „Eine ganz gefährliche Sache.“