piwik no script img

Mathematik mit sozialem Kontakt verbinden

■ Mathematik ganz anders: Bei einer Seminarwoche kamen Studierende und Lehrende ins Gespräch/ Wie Lernen im Zeitalter der Massenuni möglich ist

Berlin. Mathematik auf Schloß Rheinsberg? „Nein“, wehrt Janou Hennig ab, „einen Nachmittag hatten wir Mathe-frei und besuchten die Tucholsky-Ausstellung in Rheinsberg.“ Auch Zeit zum Diskutieren fanden 120 StudentInnen der Technischen Universität Berlin (TU) bei einem ungewöhnlichen Seminarausflug. Der Mathematik-Professor Udo Simon lud die TeilnehmerInnen seiner Einführungsvorlesung für eine Woche nach Lindow, in eine Sportschule 100 Kilometer nördlich von Berlin. Vordergründig sollte dabei der Stoff des zurückliegenden Studienjahres nachbereitet werden. Tatsächlich war Lindow etwas anderes: ein didaktischer Test, wie Lehre in Zeiten der Massenuniversität aussehen muß, wenn sie erfolgreich sein will.

Das Studium in Mathematik beginnt für die neu Immatrikulierten nicht selten mit einer bösen Überraschung. Pauken brutal ist angesagt. Die Möglichkeit des Ausruhens oder des Wiederholens hätten die Studierenden an der Uni nicht. Dazu sei die Stoffvermittlung zu kompakt. Die Folgen sind eine hohe Studienabbrecherquote in Mathematik und eine Studienzeit von 13,7 Semestern. Die Mathematik gilt als die Achillesferse so manchen TU-Faches.

Einen „Turm von Angst vor den Prüfungen“ hätten die Studierenden, schildert Christine Keitel- Kreidt, Mathematikerin und Fachdidaktikerin. Grund: Das Band zwischen Lehrenden und Lernenden ist gerissen. „Manche Studierende sehen ihren Professor unter vier Augen zum ersten Mal in der Prüfung“, sagt Keitel-Kreidt, die den Simonschen Einführungskurs nach Lindow begleitete.

In der Sportschule lernten die Studierenden die Mathematik und ihre Kommilitonen von anderen Seiten kennen. Ins vormittägliche Programm hatte Simon obligatorisch Matheübungen zur Linearen Algebra geschrieben. Am Nachmittag konnten die Studierenden den Stoff freiwillig in der Affinen Geometrie oder mittels linearer Optimierung vertiefen. Sport und Freizeit waren zum Kennenlernen gedacht. „Die soziale Isolation aufheben, die im Studium herrscht“, war das Ziel von Udo Simon, der sich davon einen Motivationsschub erhoffte.

Ziel war es dabei, in kleinen Gruppen bestimmte Bereiche des Stoffes unter einer eigenen Fragestellung zusammenzufassen. Dazu konnten die Studierenden verschiedene Literatur verwenden. Udo Simon, seine Assistenten und Tutoren hatten eine regelrechte kleine Bibliothek mit in die Sportschule gebracht. Diese Arbeitsweise fördere das aktive und eigenständige Erarbeiten des Stoffes, meinte dazu Didaktikerin Keitel- Kreidt. „Das ist kein bloßes Rekapitulieren.“

Gesprochen wurde auch über die Berufsperspektive der Mathematiker. Die Berichte dazu kamen aus Vorstandsetagen. Ein Direktor der Mannesmann AG und der Geschäftsführer der Daimler-Tochter Debis schilderten ihren Weg vom Mathematik-Hörsaal in die Wirtschaft.

„Lernen geht besser im Austausch, wenn unterschiedliche Sichtweisen aufeinanderprallen“, sagte Keitel-Kreidt, die 1987 die erste Frau war, die sich an der TU in Mathematik habilitierte. In Lindow sei es darum gegangen, „das Arbeiten zu lernen“.

„Ich habe einen anderen Zugang zu Mathe gefunden“, bestätigt Roland Salitter. „Man kann jetzt auf die Leute zugehen, weil man sie kennt“, meint Ramses. „Vor allem die Assis und Tutoren“, fügt Alice hinzu, „kann man notfalls auch mal anrufen.“ Simon, so meint ein anderer, sei ein „Prof, der mehr sieht als Mathematik“, „auch mal über Fremdenhaß oder den Streik der ÖTV“ diskutiert, sagt Steven und hat ein kerniges Lob für seinen Professor: „Der reißt sich den Arsch für uns auf.“ Christian Füller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen