Nur Stückwerk als Antwort auf die neuen Fragen

■ Interview mit Tilman Fichter, Referent für Schulung und Bildung beim Parteivor- stand der SPD, über das Versagen der SPD in entscheidenden politischen Bereichen

taz: Herr Fichter, bewegt sich die SPD unaufhaltsam auf die 30-Prozent-Marke zu?

Tilman Fichter: Beide Volksparteien bewegen sich in diese Richtung. Die SPD steht ja trotz der Schlappe noch etwas besser da als die CDU, jedenfalls in Hessen.

Bleiben wir bei der SPD. Fast hat es den Anschein, sie kann machen, was sie will – Wähler verliert sie auf jeden Fall.

Das Dilemma sitzt tatsächlich noch tiefer, als die Wahlergebnisse offenbaren. Ein großer Teil der Westdeutschen hat die deutsche Einheit innerlich noch nicht angenommen. Das gilt auch – ich muß es doch wieder auf beide politische Lager ausweiten – für die Volksparteien, die sich sehr schwertun, die ökonomischen und psychologischen Konsequenzen so zu gestalten, daß die Bürger dieses Projekt – ein demokratisches neues Deutschland aufzubauen – auch unterstützen. In dieser Hinsicht sind übrigens auch die Grünen, die bei den Wahlen gut abgeschnitten haben, nicht gerade auf der Höhe der Zeit. Eigentlich könnten wir jetzt aufbauen, wovon die republikanische Linke immer geträumt hat, ein friedliches, demokratisches, anderes Deutschland – aber gerade die Politik links von der Mitte sperrt sich. Alle, übrigens auch die Medien, hatten sich eingerichtet in einer Welt, die überschaubar war, im vertrauten Status quo. Die neue Situation als Chance zu verstehen, davon sind alle weit entfernt.

Das Einschwenken der SPD in der Asylfrage ist ja in gewissem Maße der neuen Situation geschuldet. Die Ostgrenzen sind geöffnet, die Zuwanderung ein ganz anderes Problem als bis 1989. Aber davon geht keinerlei Aufbruch aus – ganz in Gegenteil.

Ein schlagendes Beispiel dafür, daß die neue Aufgabe nicht angenommen wird. Die Wanderungsbewegung ist ein Unterkapitel der neuen Konstellation und wird verzerrt wahrgenommen, auch um die Auseinandersetzung mit dem Hauptthema abzuwehren. Es gibt nicht nur bei der SPD eine Neigung, sich vor diesem Europa wegzuducken, das wir nach dem Zusammenbruch der poststalinistischen Systeme zum ersten Mal haben könnten. Sie antwortet nur mit Stückwerk auf die neuen Fragen.

Aber entspricht es nicht der Realität, daß allenthalben die Schwierigkeiten wachsen, nicht nur beim Thema Zuwanderung. Die deutsche Einheit ist Quelle starker sozialer Ängste.

Nehmen wir noch ein Beispiel aus dem Kapitel Asyl. Genscher hat vor zwei Jahren mit Rumänien einen Vertrag ausgehandelt, der es der deutschstämmigen Bevölkerung ermöglicht auszuwandern. Für die, die bleiben, wurden Volksgruppenrechte, ein Minderheitenstatus vereinbart. Warum hat sich die Bundesregierung nicht gleichzeitig für Volksgruppenrechte der Roma, der Ungarn eingesetzt? Das könnte ein europäisches Modell im Umgang mit Menschen- und Minderheitenrechten sein.

Warum setzt sich die SPD nicht dafür ein?

Sie ist Teil des deutschen Volkes, und sie ist eingeschüchtert von dieser Situation. Ich streite dafür, daß die SPD möglichst schnell aufwacht und die Chancen begreift. Ich könnte mir vorstellen, daß diese Wahlschlappe so weh getan hat, daß sich jetzt etwas ändert.

In den ersten Tagen nach der Wahl in Hessen hat sich die SPD auf gewisse Stichworte verständigt. Eines davon lautet: Die SPD muß wieder mehr Partei, Anwalt, Schutzmacht der kleinen Leute sein...

Das muß eine linke Volkspartei auch sein. Johannes Rau hat da ganz recht, und ich bin auch überzeugt, daß die SPD sich hier wieder klarer profilieren wird.

Sehen Sie nicht auch eine Gefahr? In den achtziger Jahren war die Öffnung zu neuen Themen und neuen sozialen Schichten ein bedeutendes Thema der Parteidiskussion. Jetzt zieht die SPD sich auf bewährtes Terrain zurück – und wird zur Partei der Modernisierungsverlierer.

Öffnung und die Schichten zu vertreten, die seit über hundert Jahren die SPD tragen, das darf sich nicht gegenseitig ausschließen. Daß sich das in den letzten zehn Jahren teilweise gebissen hat, das gehört zum Versagen der SPD in den achtziger Jahren. Die Führung muß beide Projekte vereinbaren: Öffnung und knallharte Interessenvertretung.

Ein anderer Ruf nach der Wahl ist der nach einer entschiedeneren Opposition. Er kommt vor allem aus den linken Abteilungen der SPD.

Ich finde, daß die Linken unscharf argumentieren. Es kommt nicht darauf an, abstrakt schärfere Opposition zu betreiben. Es kommt darauf, daß das Projekt, ein demokratisches Deutschland aufzubauen, zugespitzt wird. Die Linke hat immer noch nicht begriffen, daß wir nicht mehr in der alten Bundesrepublik leben. Die CDU muß eben am richtigen Punkt getrieben werden. Der heißt zum Beispiel: Stopp mit der Deindustrialisierung im Osten.

Wie aber verhält sich das zum Reformangebot, das die SPD 1989 entwickelt hatte: ökologische Erneuerung. Bisher ist nicht erkennbar, daß die SPD überhaupt nur darüber diskutiert, wie sich diese Reformidee mit einer positiven gesamtdeutschen Perspektive verbinden könnte...

Da steckt aber Musik drin. Die Entindustrialisierung im Osten können wir nur aufhalten, wenn wir einige große Industrieprojekte mit Sogwirkung verwirklichen, mit Sogwirkung auf das gesamte gesellschaftliche Umfeld. Ich nenne als Beispiel nur: weiche Chemie. Warum soll es nicht möglich sein, im traditionellen Chemiegebiet Sachsen-Anhalt die Industrie so neu aufzubauen, daß Chlor aus der Chemieproduktion herausfällt? Das wäre doch ein Projekt, wo sich die alten Ideen koppeln könnten mit einem sinnvollen Aufbau in den neuen Bundesländern.

Gut gesagt, aber wo betreibt die SPD diese Diskussion?

Sie haben recht, aber ich gebe den Ball zurück: Sie muß auch im linken Umfeld der SPD endlich stattfinden – zum Beispiel in der taz. Meine Kritik an der SPD gilt auch ihrem Umfeld. Im Moment schauen wir immer noch gebannt auf die neue Situation. Wir haben eigentlich immer noch nicht begriffen, daß die Mauer zusammengebrochen, der Poststalinismus gescheitert ist, eine Ruinenlandschaft hinterlassen hat und daß darin eine riesige Chance steckt. Die SPD könnte durchaus ein entsprechendes Konzept entwickeln, wenn ihr Umfeld endlich aufwacht. Meine Ungeduld gilt dieser verschlafenen reformistischen Linken in und jenseits der SPD.