: Die giftige Hypothek der Industriegeschichte
Serie: Die Last mit den Altlasten (erste Folge)/ Im Untergrund tickt eine ökologische Zeitbombe/ Die Verwaltung kapituliert vor flächendeckender Bodenverseuchung/ Längs des östlichen Urstromtals liegt der meiste Dreck ■ Von Thomas Knauf
Im Ostberliner Industriegebiet Niederschöneweide gibt es eine künstliche Bodenerhebung, die in keinem Stadtplan eingezeichnet ist. Der nahezu dreißig Meter hohe Hügel findet sich auf dem im Volksmund so genannten „Zickenwinkel“, der an der Mündung des Britzer Zweigkanals in die Spree spitz hervorragt. Es ist eine gewaltige Abraumhalde aus hochgiftigen Resten der Lacke und Farben der ehemaligen „VEB Kali- Chemie“. Wer hochklettert, läuft Gefahr, daß sich seine Schuhe giftgrün verfärben. Die Halde birgt in hohen Dosen Cyanid und Arsen.
Tausende von Grundstücken ehemals „volkseigener Betriebe“ und Kombinate im Südosten der Stadt, in den Industriegebieten von Rummelsburg, Nieder- und Oberschöneweide, Johannisthal und Adlershof, sind mit ähnlichen Altlasten befrachtet, müssen saniert oder wenigstens so gesichert werden, daß von ihnen keine Umweltgefahren mehr ausgehen. Als Umweltsenator Hassemer (CDU) im vergangenen November eine Berlin-Karte der am stärksten verschmutzten Flächen vorstellte, wurde anschaulich, welche Dimensionen die Altlastenproblematik mit dem Zusammenwachsen der beiden Stadthälften erreicht hat und welch eine ökologische Herausforderung die Wiedervereinigung der Stadt darstellt. Auf der Karte sind die Bodenflächen, die am stärksten das Grundwasser gefährden, dunkelrot markiert. Bis auf einen Bereich im Nordwesten, in Ruhleben, handelt es sich um die Industriekomplexe im östlichen Urstromtal von der Rummelsburger Bucht bis Grünau.
Allein in Adlershof 32 Gefahrenpunkte
Allein in Adlershof ermittelte ein mit der Recherche beauftragter Projektingenieur 32 Einzelflächen mit hohem Altlastenverdacht. Bald nach der Vereinigung ordneten Gutachter in der Region neun „kritische“ Industriestandorte. Sie nannten die Unternehmen Berlin- Chemie mit den Betriebsteilen Adlershof und Grünau, Berliner Fertigteilwerke, Spezialfahrzeugbau Berlin, das Kabelwerk Adlershof, Bärensiegel, Technische Gase, das Heizwerk Adlershof sowie eine Minol-Tankstelle.
Der gesamte Industriekomplex liegt in der Trinkwasserschutzzone III im unmittelbaren Einzugsbereich des Wasserwerks Johannisthal. Wo einmal 12.000 Mitglieder der olympischen Familie unterkommen sollen, in der Rummelsburger Bucht, gibt es enorme Konzentrationen Schwermetalle, Cyanide und Teerverbindungen. Die Bodensanierung der Dreckecke wird eine Summe zwischen 750 Millionen und einer Milliarde Mark verschlingen.
Eine große Belastung sind auch die zahlreichen über die Stadt verstreuten Altdeponien. Im Hinblick auf eine mögliche Grundwassergefährdung werden sie näher unter die Lupe genommen. Im Vorgriff auf ein geplantes Deponieprogramm für den östlichen Teil Berlins bewilligte das Abgeordnetenhaus Gelder zur Untersuchung von vier der größten und wegen ihrer Nähe zu Wasserwerken wichtigsten Deponien Ahrensfelder Kippe, Arkenberge, Hellersdorfer Berg und „Am Stener Berg“.
Im Westteil sind insgesamt 440 Altablagerungen registriert, im Osten zehn. Bei dem Gros der Westberliner Deponien handelt es sich um verfüllte Kiesgruben, die erst nach der Aufstellung von Bebauungsplanunterlagen begutachtet werden sollen. Dringend gehandelt werden muß dagegen bei den Deponien Wannsee, Lübars sowie Breitehorn II und III. Die letztgenannte Schuttkippe liegt nur 150 Meter entfernt vom nächsten Brunnen des Wasserwerks Kladow und berührt wahrscheinlich Grundwasserschichten. Erste Analysen ergaben erhöhte Arsen-, Quecksilber- und Thalliumkonzentrationen.
Die bleibende Last der Alliierten
Ebenso tickt auf den Grundstücken der westalliierten Streitkräfte eine ökologische Zeitbombe. Größtes Problem sind offenbar die Tanklager, aus denen Treibstoff versickert. Insbesondere auf Kasernengeländen, Übungs- und Schießplätzen dürfte ein brisanter „Schadstoffcocktail“ zu finden sein.
Einem internen Bericht der US- Militärs zufolge ist der Schießplatz „Rose Range“ in Wannsee in hohem Maße mit Blei vergiftet. Wenige der genutzten Liegenschaften sind schon saniert, viele können erst nach dem Abzug der Militärs bis Ende 1994 erforscht werden. Weitere böse Überraschungen sind zu erwarten.
Das trifft unter anderem auf den US-Truppenübungsplatz Parks Range in Lichterfelde zu. Luftbilder, die das Umweltamt Steglitz aufnehmen ließ, deuten auf potentielle Altlasten noch aus Nazi-Zeiten. „Auf den Bildern sind neben allem möglichen Geschützgräben und unterirdische Bunkergänge zu erkennen, wo unter Umständen heute noch Munition verbuddelt ist“, berichtet der Steglitzer Umweltstadtrat Udo Bensel.
Nach den bisherigen Erkenntnissen rechnet die Umweltverwaltung mit 2.000 Altlastenverdachtsflächen im Ostteil der Stadt, im Westteil sind rund 2.500 erfaßt. Im Grunde genommen sei in Berlin innerhalb des S-Bahn-Rings eine „nahezug flächendeckende Sanierung aller industriell beziehungsweise gewerblich genutzter Flächen notwendig“. Jedoch fehlen die finanziellen und personellen Mittel, um die giftige Hypothek von 150 Jahren Industriegeschichte in absehbarer Zeit auch nur halbwegs abzutragen. Zwar fließen für den Ostteil überwiegend Gelder des Bundes. Die Kosten, die das Land Berlin zahlen müßte, sind dennoch astronomisch: Umweltsenator Hassemer bezifferte sie auf 1,65 Milliarden DM. Dabei ist Berlin mehr als pleite: Bei einem Haushaltsloch von 5,8 Milliarden DM ist eisernes Sparen angesagt – auch in den kommenden Jahren.
Senat: Umweltstandards sind nicht haltbar
Aufgrund der fehlenden Mittel und der überhaus hohen Zahl der Altlastenstandorte soll es nach den Berechnungen der Senatsfachleute bis mindestens zum Jahr 2010 dauern, bis die am nachhaltigsten kontaminierten Flächen alle begutachtet und saniert sind. Eine reichlich optimistische Annahme, denn erst einmal müßte die Senatsumweltverwaltung erheblich mehr Fachbeamte zur Koordinierung der Altlastenerkundung und zum Erlaß der behördlichen Sanierungsanordnungen haben.
Auf der Basis eines noch vor der Vereinigung entwickelten Konzepts der Verwaltung, nach dem in 15 Jahren die wichtigsten 350 Flächen allein im Westteil der Stadt erkundet und saaniert werden sollten, hatte der Senator für Inneres einen Mehrbedarf von 21 technischen Mitarbeitern ermittelt. Selbst damit ist es Pustekuchen. „Nicht einmal die Hälfte“ der genannten Mitarbeiterzahl stehe zur Verfügung, klagt Hassemer. „Dies ist um so kritischer zu sehen, da zum einen der gesamte Südosten des ehemaligen Ostberlin unmittelbares Einzugsgebiet von Wasserwerken ist und zum anderen ein sehr hoher Untersuchungsbedarf im gesamten ehemaligen Ostberlin schon darauf zurückzuführen ist, daß keine gesetzlichen Eingriffe aus Umweltschutzgründen bis zum Jahr 1990 stattgefunden haben“, heißt es in einem Verwaltungsbericht.
Es klemmt weiterhin: Für das laufende Jahr genehmigte der Innensenator nur fünfeinhalb Stellen zusätzlich im Behördenbereich Boden- und Grundwassersanierung. In der Bodensanierungsabteilung des Umweltsenators mangelt es mehr denn je an kompetenten Technikern, da gerade in den letzten beiden Jahren viele wegen der besseren Bezahlung in die freie Wirtschaft wechselten. Jetzt überwiegen fast die Juristen. „Im Vergleich zum Stadtstaat Hamburg hätten wir allein im Altlastenbereich noch einen Fehlbedarf von über 40 Beschäftigten“, erzählt der zuständige Referatsleiter Joachim Strobel.
Es gibt zu wenig Personal
Weil kein Geld und kein Personal da ist, gab der Umweltsenator in Sachen Altlasten eine neue Marschrichtung vor. Es gebe ja auch „nicht die umweltpolitische Notwendigkeit, jeden Quadratmeter zu säubern“, verkündete er. Das klingt zunächst einleuchtend. Fallweise können Gutachter mit Sicherheit ausschließen, daß Schadstoffe im Boden „wandern“ oder in die Luft ausgasen, so daß keine Gefahren für Mensch und Umwelt bestehen. Tatsächlich kapituliert die Hassemer-Verwaltung vor der flächendeckenden Bodenverseuchung in der Industriemetropole Berlin. Selbst geschaffene Umweltstandards will die Verwaltung einfach herabsetzen.
So wandte sich der Umweltabteilungsleiter Klaus-Jürgen Delhaes auf einer Veranstaltung des Berliner Umweltrates gegen die angeblich zu „starren“ Richtwerte der von der Verwaltung erarbeiteten Berliner (Schadstoff)-Liste, auf deren Grundlage die Behörde Sanierungsmaßnahmen von Amts wegen anordnen muß und von der sie nur in begründeten Ausnahmefällen abweichen darf.
Wenn es nach der Liste ginge, müßten sämtliche der kontaminierten Standorte innerhalb des S- Bahn-Rings zwingend saniert werden, was keinesfalls durchführbar sei, sagte Delhaes. Er plädierte dafür, die Schadstoffparameter und Orientierungswerte entsprechend zu „überarbeiten“. Da praktisch alle Industriebrachen verdreckt sind, scheinen die jetzigen Vorsorgestandards kaum noch haltbar zu sein.
Die Sanierung vor dem Abschluß eingestellt
Die veränderten Maßstäbe lassen sich am Beispiel des Geländes der ehemaligen Altölaufbereitungsfirma Pintsch illustrieren. Obwohl der bis zum Gehtnichtmehr mit PCB-haltigen Mineralölprodukten, chlorierten und aromatischen Kohlenwasserstoffen durchsetzte Boden von einem neuen Nutzer erst noch bis zur Mindesttiefe von vier Metern abgetragen und darüber hinaus bis auf zwölf Meter hinunter gesichert werden müßte, wurde die Sanierung auf Beschluß des Parlaments bis auf Restarbeiten – unter anderem die biologische Reinigung des Inhalts eines Flachtanks – ausgesetzt.
Der Beschluß fiel leicht, denn Weitersanierungen hätten noch einmal 70 Millionen DM gekostet. Über 105 Millionen DM mußte das Land Berlin schon für Pintsch ausgeben. Die Abschlußarbeiten seien ausreichend, „da eine unmittelbare Gefährdung für die Trinkwasserversorgung Berlins durch die weiter im Untergrund befindlichen Schadstoffe nicht mehr besteht“, so die Hassemer-Beamten in einer Darstellung für den Hauptausschuß. Zugleich wird eingeräumt, daß die jetzt noch vorhandene Schadstoffmenge „immerhin“ eine Gefährdung darstellt, allerdings nur „langfristig gesehen“.
Zu Beginn der modellhaften Sanierung vor neun Jahren war das Gelände an der Gradestraße über die Grenzen Berlins hinaus als eines der am höchsten verunreinigten bekannt. Auf dem Grundwasser schwamm eine bis zu zwei Metern dicke Öllinse.
Elektronische Erstbewertung nach Punkten
Inzwischen mit Erfolg erprobt ist eine Art elektronischer Fragebogen zur anfänglichen Abschätzung der Umweltgefahr, die aus dem Boden kommt. Das für die Umweltverwaltung entwickelte Datenbanksystem trägt den Namen TUBA, was für die „Toxikologische Umweltbewertung von Altlasten“ steht. Mit der Computerhilfe wollen die Behördenmitarbeiter Handlungsprioritäten für das Vorgehen bei der nachfolgenden Erkundung und Sanierung der Böden entwickeln.
Eingegeben werden eine ganze Reihe von vorhandenen Informationen wie Verwaltungsdaten, Adressen, Angaben zu Betriebszweig und Abfallaufkommen, geographische Koordinaten, Angaben zur Boden-, Luft- und Wassersituation und zur momentanen Nutzung durch den Menschen. Dann läuft – theoretisch – alles wie geschmiert: „Im Hintergrund und für den Benutzer unsichtbar verknüpft die Datenbank die Eingaben mit Toxikologie- und Stoffparametern und leitet daraus im Rahmen eines rationalen Bewertungsmodells am Ende die Handlungspriorität ab“, erläutert das Benutzerhandbuch zu TUBA.
Der Eintrag der Daten erfolgt nach einer Punkteskala, wobei die Gefahren für das Grund- und Trinkwasser am höchsten bewertet werden. Aus der höchstmöglichen Zahl von 960 Punkten ergibt sich die höchste Sanierungspriorität. Demgemäß erhielt etwa das Grundstück des ehemaligen VEB Kali-Chemie in Niederschöneweide den recht hohen Wert von 842 TUBA-Punkten, wohingegen auf das Pintsch-Gelände nur 211 Punkte entfielen und es deshalb zurückgestellt wurde.
Nach mehreren Sitzungen des Hauptausschusses wurde im letzten Mai von den Parlamentariern und dem Umweltsenator einvernehmlich entschieden, daß Altlastenverdachtsflächen mit einer Priorität von weniger als 550 TUBA-Punkten zunächst nicht weiter bearbeitet werden sollen, bis man alle überdurchschnittlich bewerteten Standorte abgearbeitet hat. Von insgesamt 4.500 sind das rund 550.
Gefahrenpunkte wurden neu definiert
Einzig und allein das „zentrale Schutzgut Trinkwasser“ sei beim gebremsten Altlasten-Kehraus in der Spreemetropole maßgebend, will Hassemer der Öffentlichkeit weismachen. Doch überall in der Stadt werden millionenschwere Sanierungsvorhaben auf Grundstücken mit einer Priorität von teilweise weit weniger als 550 TUBA- Punkten begonnen, wo unter- oder oberirdisches Naß keineswegs akut gefährdet ist. Dem Hauptausschuß teilte die Verwaltung zur Rechtfertigung lapidar mit, es ergebe sich neben der „rein naturwissenschaftlich“, das heißt wasserwirtschaftlich bedingten Priorität „oftmals kurzfristiger und zusätzlicher Handlungsbedarf“.
So insbesondere im Rahmen von Gewerbeansiedlungen, beim Wohnungsbau oder bei der begleitenden Realisierung von Großprojekten, wie zum Beispiel den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele. Ganz offensichtlich werde statt anhand nachvollziehbarer Kriterien „nach der politischen Opportunität“ saniert, bemängelt der umweltpolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne, Hartwig Berger. Die Reihenfolge der Vorhaben sei „völlig undeutlich“. Der Grüne steht mit seiner Kritik nicht allein. Dem Senat fehle ein struktur- und wirtschaftspolitischer Planungshorizont, rügte vor dem Umweltrat unwidersprochen der Vertreter einer als Projektträger tätigen Umweltberatungsfirma. Unzufrieden war auch der Sozialdemokrat Holger Rogall, für seine Fraktion im Umweltausschuß des Abgeordnetenhauses. Rogall: „Bisher hat es eine richtige Altlastensanierungspolitik noch gar nicht gegeben oder sie steckt noch in den Kinderschuhen.“
Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen