: Ein rasender Flügel
■ Das virtuose Selbstspielklavier gastierte in der Galerie Rabus
Die berühmte Komponisten Edvard Grieg und Sergej Rachmaninoff spielten am Sonntag abend in der Galerie Rabus auf dem Klavier! Original! — Den Applaus konnten nicht hören, denn sie sind ja schon lange tot. Der Bösendorfer-Ampico-Selbstspielflügel machte das Vorspiel möglich: Grieg und Rachmaninoff hatten zu Lebzeiten „live“ auf Papierrollen gespielt.
Winzige Löcher im Spezialpapier steuern nicht nur die Töne, sondern auch feinste Nuancen des Anschlages und der Dynamik. Vakuumpumpe und Luftschläuche lassen das Instrument — von oben ein normaler Flügel — von unten wie die Innentechnik eines Hochhauses erscheinen.
Das Instrument, das am Sonntag abend in Bremen gastierte, stammt aus dem Jahre 1922 und ist in Europa der einzige spielbereite Umbau eines „normalen“ Bösendorfer-Flügels durch die „American Piano Company“ (=AmPiCo). Es gehört dem Chemiker Dr. Jürgen Hocker, dessen Liebe zu alten Klavieren zu einem privaten Klaviermuseum geführt hat. Sein Engagement macht Konzerte mit dieser Musik seit einigen Jahren möglich; er führte während des Konzertes fachkundig durch das reichhaltige Programm.
Es ging an diesem Abend jedoch nicht um das museale Zurschaustellen einer musikalischen Kuriosität, sondern vor allem um das Werk Conlon Nancarrows. Er ist 1912 in den USA geboren, mußte 1940 nach Mexico emigrieren und komponiert seitdem aus
Klavier-GedärmJ.O.
schließlich für Selbsspielinstrumente. Schon früher ärgerte ihn immer wieder die Unfähigkeit selbst guter MusikerInnen, seine rhythmisch enorm schwere Musik zu interpretieren.
Ampico-Klaviere hingegen lassen menschliche Grenzen weit hinter sich: Arpeggien in Sekundenbruchteilen quer durch die gesamte Klaviatur sind genausowenig ein Problem wie beliebig viele unabhängige Stimmen, und das alles in jedem beliebigen Tempo. In seiner Study for Player Piano No. 21 z.B. erklingt in zwei Stimmen die gleiche Melodie — während die eine langsam beginnt und immer schneller wird, läuft es in der anderen umgekehrt. Am Ende erklingen 130 Töne in einer Sekunde.
Der resultierende Gesamtklang ist aber mehr als eine Demonstration des technisch Mögli
chen: Nancarrows schreibt - oder besser stanzt — eine anregende neue Musik rasender und schwirrender Klänge.
Conlon Nancarrow arbeitete fast vierzig Jahre lang unbeachtet für sich allein, und erst seit etwa zehn Jahren wird sein Werk weltweit anerkannt. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen: Dr. Hocker stellte auch andere Werke u. a. von György Ligeti vor, die bewiesen, daß in diesem Instrument noch mehr als die Musik Nancarrows stecken kann. Deshalb bleibt der Ampico-Flügel auch noch eine Woche in der Galerie stehen: am nächsten Sonnabend wird er in einem Portraitkonzert der Komponistin Caroline Wilkins wieder benutzt - diesmal im Zusammenspiel mit einer „echten“ Pianistin.
Wilfried Wiemer
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