: Eine Frage der Professionalität
Die Streithähne Garri Kasparow und Nigel Short verbünden sich und lassen der FIDE zum Geldverdienen nur das Spiel um den dritten Platz ■ Von Stefan Löffler
Berlin (taz) – Wer Garri Kasparows Spitzenstellung in Zweifel ziehen will, hat schlechte Karten, oder näher am Jargon: eine ruinierte Köngisstellung. Beim Weltklasseturnier in Linares hat der Meister aller Klassen binnen zwei Nachmittagen Viswanathan Anand und Anatolij Karpow, immerhin den Vierten und den Zweiten der Weltrangliste, abgezockt und von der Spitze weggeschubst. Mit 1,5 Punkten vor den beiden gewann Kasparow das Turnier und deklassierte die bis auf Short geschlossen versammelte Weltspitze.
Die miserablen Verlustchancen des ungeliebten Weltmeisters gegen seinen Herausforderer Nigel Short erscheinen den in Südspanien versammelten Figurenkünstlern derzeit kaum der Rede wert. Nur lachen können Karpow & Co. über die patriotischen Quoten der Londoner Buchmacher, die nach dem Kandidatenfinalsieg des Briten immerhin 13 zu 10 auf Kasparows Titelverteidigung auszuzahlen bereit waren, besonders, wenn die Meister diese Form der Geldanlage selbst gewählt haben.
Besseren Gesprächsstoff bietet die Rebellion der beiden WM-Duellanten gegen den Weltschachbund FIDE. Während Kasparow seine dritte Partie in Linares spielte, machte seine mit Short gemeinsam verfaßte Presseerklärung Schlagzeilen. Die beiden Profis seien nicht mit der WM-Vergabe an Manchester einverstanden und erwarten bis 19. März neue Angebote, um das Titelmatch in eigener Regie auszutragen. Das löste bei der FIDE existentielle Ängste aus, denn die alle drei Jahre ausgetragene WM ist ihre Hauptfinanzierungsquelle.
Ihr Präsident Florenico Campomanes reiste eigens einige Tage nach Linares, um Kasparow umzustimmen. Doch der blieb höflich und bestimmt: „Persönlich habe ich nichts gegen Campo. Die Vergabe der WM ist eine Frage der Professionalität, und da ist die FIDE eben überfordert“, sagte er gegenüber El Pais.
Innerhalb von vier Wochen nach dem Kandidatenfinale müssen der Titelverteidiger und sein Herausforderer schriftlich erklären, daß sie nach dem FIDE-Reglement antreten. Ende Februar ist die Frist verstrichen, und Campomanes hätte Kasparow seinen Titel bereits aberkennen müssen. Auch Short, der als einziger der Beteiligten nicht nach Linares kam, wäre sein Herausfordererrecht offiziell los. Der oberste Schachfunktionär hofft indes auf eine diplomatische Lösung.
Der unterlegene Kandidatenfinalist und der Halbfinalist mit der höheren Elozahl sind von der FIDE als Reservisten vorgesehen. Jan Timman und Anatolij Karpow haben dem Weltmeister schon angekündigt, daß auf ihre professionelle Solidarität nicht unbedingt Verlaß sein wird. Von Campomanes oder den anwesenden Journalisten festlegen ließen sie sich nicht. Zumindest denkbar ist jetzt, daß in diesem Jahr sowohl eine FIDE- WM Timman – Karpow als auch eine Profi-WM Kasparow – Short stattfinden könnte. Welche die Schachfans dann als Spiel um den dritten Platz ansehen würden, wäre nicht schwer zu erraten.
Die Gründung der FIDE im Jahr 1924 wurde von den Berufsspielern jener Tage kaum zur Kenntnis genommen. Die FIDE- Titelkämpfe galten als Amateurweltmeisterschaften. Die Schachwelt war eine Monarchie, die Thronfolge regelten die Könige persönlich. Wer den Weltmeister herausfordern wollte, mußte ihrer Majestät als ungefährlicher Gegner erscheinen und einen spendablen Sponsor einbringen. Hohe Meisterschaft in der Sicherung seiner Regentschaft bewies der Berliner Emanuel Lasker, der sich 27 Jahre an seiner Pfründe halten konnte. Nur 1910 gegen den Wiener Carl Schlechter drohte Lasker der Titelverlust, bis ihm in der letzten Partie der rettende Gewinn gelang. Schlechter verhungerte einige Jahre später, als während des Ersten Weltkrieges die schachlichen Verdientsmöglichkeiten ausgingen.
Dieses Schicksal droht dem WM-Verlierer 1993 nicht. Trotzdem verweisen Short und Kasparow auf die Schachgeschichte, um ihr Anliegen zu rechtfertigen. Seit die FIDE nach Alexander Aljechins Tod 1946 den WM-Titel vergibt, hat sie sich einige Pannen geleistet. Die folgenden Titelkämpfe gelten aus heutige Sicht als Farce der sowjetischen Funktionärsmafia, die Stalin-Intimus Michail Botwinnik an die Schachspitze hievte. Der Este Paul Keres als vermeintlicher Nazi-Kollaborateur und der Jude David Bronstein, dessen Makel der gleichlautende bürgerliche Name Trotzkis war, durften in den Jahren 1948 und 1951 nicht über unbedeutende zweite Plätze hinauskommen.
Bobby Fischer wäre kaum zum Paranoia-Patienten geworden, wenn die vom Schachverband der UdSSR kontrollierte FIDE für Chancengleichheit gesorgt hätte und er früher an die Spitze gelangt wäre. Obwohl ihm die Schachfunktionäre 1975 den Weltmeistertitel aberkannten, besteht der US- Amerikaner bis heute auf dem Namenszusatz. Die FIDE habe den Fischer-Boom zerstört, statt ihn zu nutzen, kritisierte Kasparow in einem Vortrag, den er 1991 an der Sommeruniversität von Madrid hielt. Fischer habe vielleicht nur die Lobby gefehlt, um der FIDE die „professionelle Schach-WM“, so der Titel des Referates, abzunehmen.
1985 fühlte sich Kasparow um seine Titelchancen verprellt, als Campomanes den schon 48 Partien dauernden WM-Kampf gegen den völlig erschöpften Karpow ohne Ergebnis abbrach. Der FIDE-Chef hat es später „die vielleicht beste Entscheidung meines Lebens“ genannt, für Kasparow war es „der Tag der größten Schande für den Schachsport“.
Er sagte der FIDE den Kampf an und gründete mit anderen Profis die Großmeisterunion GMA. Doch als seine Kollegen seinem Konfrontationskurs nicht mehr folgen wollten, kehrte Kasparow ihnen 1990 den Rücken, um vor einem halben Jahr eine eigene Spielerorganisation zu gründen. Die GMA vernachlässige die allseligmachende Professionalisierung, und die FIDE solle sich sowieso nur um die Amateure kümmern, argumentierte er damals.
Nigel Short, der inzwischen die GMA-Führung übernommen hatte, galt bis vor wenigen Wochen als Hauptfeind Kasparows, bis die beiden ihr Zweckbündnis gegen die FIDE schlossen. Der gründungserfahrene Weltmeister gab dem Kind den Namen „Professionelle Schachunion“. Die bisher einzigen Mitglieder heißen Kasparow und Short. Ihre Pressesprecherin ist eine Miss Hardman, und die ist niemand geringeres als das Kinderfräulein des Londoner Großmeisters Raymond Keene.
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