: Sozialdemokraten kritisieren Solidarpakt
■ Bundesregierung weist Nachbesserungswünsche der Opposition zurück / FDP warnt vor höherer Neuverschuldung / Blüm kündigt schärfere Kontrollen für Sozialhilfeempfänger an
Bonn (taz/dpa/AP/AFP) – In das überwiegend positive Echo auf die Solidarpakt-Einigung mischten sich gestern kritische Stimmen aus der SPD. Sozialexperte Rudolf Dreßler beanstandete, daß bisher „in erster Linie ein Aufbauprogramm Ost“ herausgekommen sei. „Es fehlt aber immer noch ein schlüssiges Konzept für den Westen“, mäkelte er. Er forderte Nachbesserungen beim Wohnungsbau, der Arbeitsmarktpolitik und eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige. Dreßlers Nachbesserungswünsche wurden von der Bundesregierung umgehend zurückgewiesen. Dreßler habe bei der Verabschiedung der Schlußerklärung „keine erkennbaren Zeichen des Widerspruches von sich gegeben“, konterte Regierungssprecher Vogel.
Während Björn Engholm sich insgesamt zufrieden mit den Ergebnissen zeigte, wies auch Oskar Lafontaine darauf hin, daß „noch zahlreiche Fragen offen seien“. Dabei nannte er die Arbeitsmarktpolitik, Investitionen in Westdeutschland, aber auch die Pflegeversicherung und den Einstieg in eine ökologische Steuerreform.
Dreßler äußerte sich auch zur sozialen Komponente, auf die sich SPD und Regierung beim Solidarzuschlag im Grundsatz geeinigt haben. Als Einkommensgrenze schlug er 50.000 Mark brutto für Ledige und 100.000 Mark für Verheiratete vor. „Das kommt unserem Vorschlag einer Ergänzungsabgabe am Ende sehr nahe“, so Dreßler. In Potsdam tagte am Nachmittag das SPD-Präsidium, um über die Auswirkungen des Solidarpaktes zu beraten.
Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff erwartet nach dem Solidarpakt-Kompromiß für dieses Jahr eine deutlich höhere Neuverschuldung des Bundes als bisher vorgesehen. Die Liberalen rechneten mit einer „Zahl zwischen 60 und 65 Milliarden Mark“, erklärte er nach einer FDP-Präsidumssitzung.
Die brandenburgische Arbeitsministerin Regine Hildebrandt kritisierte, daß die vom Bund für zusätzliche AB-Maßnahmen zur Verfügung gestellten zwei Milliarden Mark nicht ausreichten. Um die ursprünglich im Jahresdurchschnitt vorgesehenen 350.000 ABM-Stellen zu erreichen, würden weitere vier Milliarden Mark benötigt. Nach einem Bericht des Handelsblattes fehlen der Bundesanstalt für Arbeit zwei Milliarden Mark für ABM-Stellen. 9,9 Milliarden Mark sind im Haushalt von 1993 für AB-Maßnahmen vorgesehen, aber schon jetzt sind Zusagen in Höhe von 12,3 Milliarden gemacht worden. Um die Finanzierungslücke von 2,4 Milliarden zu schließen, sollen alle Zusagen darauf hin geprüft werden, ob sie gestrichen werden können oder ob sie über das Ersatz-ABM-Programm im Umwelt- oder Sozialbereich finanziert werden können.
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm kündigte gestern weitere Maßnahmen zur Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs an. Arbeitslose sollen künftig ihre Lohnsteuerkarte beim Arbeitsamt abgeben. Der Effekt der Maßnahme hält sich allerdings in Grenzen, können doch über einen Computerabgleich schon jetzt diejenigen herausgefischt werden, die Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit beziehen und gleichzeitig sozialversicherungspflichtig gemeldet sind. Schwarzarbeiter kann man mit dem Datenabgleich ebensowenig erwischen wie mit der Auflage, die Lohnsteuerkarte abzuliefern. Blüm erhofft sich davon jedoch, daß Arbeitgeber, die Schwarzarbeiter beschäftigen, sich künftig nicht mehr damit herausreden können, sie hätten nichts gewußt. Außerdem sollen Bauunternehmer, die illegale Arbeitskräfte aus dem Osten beschäftigen, künftig von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden. Blüm kündigte ebenfalls an, daß durch einen Abgleich der Daten der Sozialämter mit denen der Arbeitgeber diejenigen ermittelt werden sollen, die zu Unrecht Sozialhilfe kassieren. win
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