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Gegen die „Balkanisierung der Tariflandschaft“

■ IG-Metall-Proteste beim Bremer Arbeitgeberverband / Droht Tarifvertragsbruch heute im Osten — morgen im Westen?

Heiß begehrt war gestern das „Bremer Industrie-Haus“, das gleich zweimal im Mittelpunkt von Gewerkschafts-Protesten stand. „Tarifverträge sind kein Schrott“ schrieben rund 100 Klöckneraner am Vormittag dem dort ansässigen Bremer Arbeitgeberverband ins Stammbuch und kippten zur Demonstration auch gleich mehrere Schubkarrenlaldungen echten Schrotts vor die Tür. Am Nachmittag dann erneutes Getriller: Zum Aktionstag „Norddeutschland steht auf“ hatte die IG Metall/Küste von Stralsund bis Emden zum Protest aufgerufen — gegen Tarif-Rechtsbruch, Arbeitsplatzvernichtung und Sozialabbau. Rund 12.500 gingen in Emden, Oldenburg und Bremerhaven auf die Straße, in Bremen waren es am Nachmittag nur 200. Im Bremer Mercedes- Werk legten 300 für eine Stunde die Arbeit nieder.

Grund der Aktionen: Die IG- Metall vermutet, die Arbeitgeber in West und Ost wollten strategisch das gesamte Tarifvertragssystem „über die Klinge springen lassen“, wie es IGM- Bezirksleiter Frank Teichmüller formulierte. Nach der fristlosen Kündigung der Metall-Tarifverträge in Mecklenburg/Vorpommern durch Arbeitgeberseite befürchtet die IGM, der Tarifbruch schwappe auch in den Westen über — in Form von „Tarif- Öffnungsklauseln“, die ein Verhandeln zwischen Betriebsführung und Betriebsrat ungeachtet der geltenden Tarife ermöglicht. Wie das in einem krisengeschüttelten Betrieb aussehen könnte, malt der Bremer IGM-Chef Manfred Muster aus: „Da wird dann der Betriebsrat derart unter Druck gesetzt, daß es heißt: Entweder wir zahlen kein Weihnachtsgeld aus, oder wir entlassen 150 Leute. Das hält doch kein Betrieb aus!“ Für Muster bedeutet das eine „Balkanisierung der Tariflandschaft“. In der Stahlindustrie gibt es laut Klöckner-Betriebsrat bereits „dezente und vorsichtige Versuche“, an die Tarifverträge heranzukommen.

Rund 6.100 Protestunterschriften hatten DGB und IG Metall in Bremer Betrieben gesammelt, die Muster dem Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, Ortwin Baum, überreichte. Empfangen wurde die Delegation mit einem lautstarken „Wenn es ums Demonstrieren geht, ist die IG Metall schnell zur Hand, doch wenn darum geht, den Betrieben im Osten zu helfen, da ist sie stur!“ Erregt stritten sich der Arbeitgeberboß und der Gewerkschafter um den Tarif-Rechtsbruch, der für Baum keiner ist (“Wir haben in einer Notsituation gehandelt“), um den Beitrag der IG Metall zum Solidarpakt, den Baum vermißt, und die Arbeitgeberstrategie des Tarifaushöhlens — für Baum „alles Quatsch“. Eindeutig Baums Antwort auf die Frage, ob er sich im Westen Tarif-Öffnungsklauseln vorstellen könne: „Ja“. Einig waren sich die beiden lediglich darin, daß sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften 1990 bei der Vereinbarung der Stufentarifpläne für den Osten eine falsche Einschätzung der Lage hatten.

Heftig widersprach allerdings der aus Rostock angereiste Gewerkschaftler Dieter Kremplien von der Neptun-Werft, der in Mecklenburg/Vorpommern mit am Verhandlungstisch gesessen hatte, Baums Behauptung, es gebe viele Betriebe im Osten, die bei der eigentlich vereinbarten Anhebung der Löhne 26 Prozent augenblicklich bankrott gehen würden: „Uns wurde nicht ein Betrieb genannt.“

Doch Baums Sorgen gehen weiter: Die Tarifautonomie wolle auch der Arbeitgeberverband erhalten, doch „bei 26 Prozent werden wir viele Betriebe nicht mehr im Verband halten können, und darüber geht das Tarifsystem kaputt“, so Baum.

Als Manfred Muster aus dem Büro des Arbeitgeberbosses kam, war er um ein Buch reicher, das er bei Baum unter Jubel auf dem Schreibtisch entdeckt hatte: „Die Zukunft der sozialen Partnerschaft.“ Geschenkt war es obendrein. Susanne Kaiser

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