piwik no script img

Hört zu, schnappt auf, hört weiter

Peer Hultbergs Roman „Präludien“ beschreibt die Erziehung des Frédéric Chopin  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Die große Form war nicht sein Metier. Als Komponist verstand er sich eher auf die kürzeren Übungen, auf die Walzer und Polonaisen, auf die Phantasien und Präludien. Was sich von dem dänischen Schriftsteller Peer Hultberg nicht unbedingt sagen läßt. In dessen Roman „Präludien“ spielt Chopin zwar die Hauptrolle, jedoch wenig Klavier. Diese Messe für die Toten, dieser große und düstere Gesang entpuppt sich schnell als eine offene Komposition aus lauter Miniaturen. In 537 Eintagsleben führt Hultberg seine Figuren zu einem kurzen Höhepunkt: Keine von ihnen erreicht das geradezu biblische Alter von zwei Buchseiten. Es sind Romane in Pillenform, flüchtige Leidensläufe und hemmungslose Selbstentblößungen, neurotische Stammeleien und resignierte Verlustmeldungen.

In seinem Roman behält Hultberg nicht nur die musikalische Manier bei, er hat sie in ihrer minimalistischen Form eher noch verdichtet. Die Anonymität der namenlosen Pronomen, der ephemeren Masse aus „Requiem“ hat er nun gegen die Individualität des Künstlers getauscht. „Präludien“ erzählt die Kindheit Frédéric Chopins. Aber erzählen ist eigentlich zuviel gesagt.

Mit pianistischer Präzision und wohltemperierter Sprache wird in kurzen Prosastücken eine bürgerliche Kindheit nach 1800 komponiert. Eine Kindheit inmitten einer x-beliebigen Familie in einer x-beliebigen Stadt – wäre da nicht dieser Name: Chopin. Und der Leser weiß ja, daß dieser Chopin ... Wer aber nun eine einfühlsame Beschreibung ebenso einfühlsamer Eltern erwartet hätte, eine feinsinnige Erzählung all ihres Bemühens, welches nur auf das eine Ziel gerichtet ist, nämlich ein überaus talentiertes Kind nach allen Regeln der Kunst zu fördern, der wird sich getäuscht sehen.

Es wird erzogen! Zwölf Jahre lang und über 270 Seiten hinweg wird erzogen, daß es dem kleinen Fryc, dem späteren Frédéric, in den musikalischen Ohren klingt. Denn sein Vater, ein Bauernsohn aus den Vogesen, den es ins nicht näher beschriebene Warschau verschlagen hat, ist Pädagoge. Und ein aufgeklärter obendrein, ein glühender Verehrer Rousseaus: „Ohne Schläge, und das habe ich meiner Frau und allen im Hause gesagt, ohne Schläge, meine Kinder sind ohne Schläge erzogen worden, denn es ist nicht nötig, ein Kind zu schlagen, ein Kind kann anders erzogen werden, ein Kind ist empfänglich für Raison.“ Erziehung ist eine Frage der Vernunft, jedes Kind begreift das. Folglich werden die Exempel nicht mehr statuiert, sie werden berichtet: als abschreckendes Beispiel. Von Kindern, die ihren Eltern nicht gehorchten und schon deshalb schreckliche Qualen erleiden mußten – ja, manchmal starben sie sogar: weil sie faul waren, weil sie dauernd naschten, weil sie einen Grashalm in den Mund nahmen – es ist der simple und naive Tonfall des Struwwelpeters oder der Grimmschen Märchen, den Hultberg hier anschlägt.

Diese Exempel und Zwischenspiele unterbrechen, oft nur für einen Augenblick, die aufmerksamen Beobachtungen des Jungen. Fryc hört zu, schnappt auf, hört weiter, versteht, versteht nicht, lauscht. Die Stimmen vermischen sich mit Gerüchen, anderen Geräuschen, geheimnisvollem Wissen oder dunklen Ahnungen zu Momentphantasien. Sie wecken Ängste und Schuldgefühle, Neugier und Unruhe, aber auch das plötzliche Glück. Zum Beispiel am Klavier. Und der zwölfjährige Fryc setzt es sich schließlich in den Kopf, Pianist zu werden – und zwar gegen den entschiedenen Willen der Eltern: „So begabt du auch bist, denn das ist etwas anderes, das Leben besteht nicht aus Trillern und Fingerfertigkeit, das ist unwiderruflich vorbei.“

Hultberg stellt eine Erziehung, die sich selbst für wohlmeinend hält, als eine subtilere Form ständiger Maßregelungen bloß. Zugleich erscheint das bürgerliche Heim der Konvention und des Anstands, des Gerüchts und des Geredes als eine völlig statische Welt. Es gibt nichts außerhalb der Familie, was irgendwie von Bedeutung wäre.

Hier offenbart der Roman sein einziges, freilich geringes Manko: Er hat einige Längen. Was man natürlich schnell der Absicht des Verfassers zuschreiben kann. Denn die Zustandsbeschreibung findet eben in der Sprache statt, und diese bildet den ennui, die gedämpfte Langeweile, wahrheitsgetreu ab.

Hultbergs Roman ist ein phantastisches Sprachspiel und als solches dem Klavierspiel Frédéric Chopins ganz bewußt angenähert. Er steckt voller musikalischer Themen, Leitmotive, Satzakkorde (was in der ausgezeichneten Übersetzung von Ursula Schmalbruch noch deutlich bleibt). Ein literarisches Ostinato aus Wiederholungen und Steigerungen, das zuweilen an Thomas Bernhard erinnert, dem ja auch ein gewisser Hang zur Musik nachgesagt werden kann. Dessen spiralförmig geschraubte Sätze klingen freilich anders als die offeneren und freieren Wortmelodien bei Hultberg.

Nicht die Handlung, sondern die Sprache – und ihre Entsprechung, die Musik – ist es daher auch, in der das utopische Moment des Romans anklingt: als Fluchtpunkt im Leben Frycs, als warmer Klang im Eispalast der Konvention, als Lebendigkeit virtuoser Läufe gegen die Langeweile der Familie, als Waghalsigkeit neuer Akkorde gegen deren falsche Harmonie. Und Hultberg gelingt eine brillante Tonsetzerei – konzentriert und konsequent.

Ginge es nach dem Schluß des Romans, so bliebe die Pianistenlaufbahn ein bloßer Wunschtraum, und aus dem kleinen Fryc wäre niemals Frédéric Chopin geworden – und hier stellt Hultberg die Geschichte, die richtige Geschichte, auf den Kopf. Denn der Leser weiß ja, daß dieser Chopin...

Aber am Ende weiß er eben auch, daß die Utopie nur gegen alle Wohlerzogenheit zu haben ist – und gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Peer Hultberg: „Präludien“. Aus dem Dänischen vom Ursula Schmalbruch. Residenz Verlag, 1992, 269 Seiten, 45 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen