: Der Schwindel vom Sozialstaat: der letzte Film aus der ehemaligen Bundesrepublik... als wir noch nicht teilen sollten
Der Schwindel vom Sozialstaat: der letzte Film aus der ehemaligen Bundesrepublik... als wir noch nicht teilen sollten
In derselben Eindringlichkeit, mit der die Kamera auf die alte Frau zufährt, schaut die Greisin zurück. Ganz nah ist die Kamera ihrem Gesicht. Mit festem Blick gebietet die Alte den Dokumentarfilmern Einhalt: Sie bleiben zurück, lassen die Frau alleine den Reisigkorb die Treppen hinaufschleppen, folgen ihr in gebührendem Abstand ins Haus. Dort wird bundesrepublikanische Armut sichtbar: Nah an der tschechoslowakischen Grenze lebt die Alte mit ihrer Schwester — ohne Strom, ohne Bad, Wasser nur aus dem Brunnen im Hof. In einer Ecke fristet ein Huhn sein Gnadenbrot.
Armut in Deutschland hat viele Gesichter. Einige haben Hans Peter Clahsen und Michael F. Huse aufgespürt, ihre Geschichten recherchiert und in eindrucksvollen Bildern, dokumentarisch und dennoch höchst parteiisch und politisch, festgehalten: „Im Westen alles nach Plan“. Die siebenköpfige Familie und ihren Gerichtsvollzieher; die arbeitslosen Übersiedler in der Gemeinschaftsunterkunft; der ausgemusterte Pferdeknecht; das Frührentnerpaar beimKrabbenpulen — rund-um-die-Uhr, für 2 Mark die Stunde, lebensnotwendig, weil Kredithaie ihnen 2.000 Mark Monatsbelastung für ihr Häuschen aufgehalst haben — ihr Einkommen aber nur bei 1.200 Mark liegt, usw.
105 Kinominuten lang führt der Film in die Wohnzimmer und Notunterkünfte armer BundesbürgerInnen, in Amtsstuben ebenso wie an den Bankschalter, zur Armenspeisung im Hause der Fürstin zu Thurn und Taxis wie vor allem auch: in die Parlamente. Er zeigt die Kehrseite der Wohlstandsgesellschaft, den „Etikettenschwindel der Sozialen Marktwirtschaft“, wie die Filmemacher betonen.
Mehr als drei Millionen Menschen leben in der Bundesrepublik von Sozialhilfe (Tendenz: steigend). Die beiden oben genannten Schwestern in der Einöde des Bayerischen Waldes zählen nicht dazu: Sie wollen keine Unterstützung. Auch diejenigen, deren Einkommen nur um wenige Mark über der Sozialhilfegrenze liegt und deren Zahl ebenfalls permanent steigt, sind darin nicht enthalten.
Wieviele Arme gibt es in der Bundesrepublik? Sind es zwei oder zehn Millionen? Die Bundesregierung verweigert sich einer Antwort ebenso wie einem überfälligen Armutsbericht. Der Film dokumentiert die Parlamentsdebatte sarkastisch: Eine Zahl zu nennen, setze „eine Definition von Armut voraus.“ Nach Ansicht der Kohl'schen Bundesregierung gibt es aber „keinen allgemeingültigen Begriff von Armut“ — „nur Erscheinungsformen.“ Armutsberichterstattung hält die Bundesregierung entsprechend „für wenig zweckmäßig“. Begründung: „Weil Armut nicht allgemeingültig definiert werden kann.“
Der Film zeigt die Armut nicht bedrückend. Und er führt die Betroffenen nicht vor, er begleitet. Zum Teil witzig. Ästhetisch, wie gutes Kino sein muß. Nur Lob und etliche Preise hat er erhalten. Aber keiner war mit Geld versehen. ra
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