: Ohne Wohnsitz in St.Petersburg
Obdachlose und Straßenkinder leben und sterben am Rande der Gesellschaft/ Die Stunde der privaten Initiative/ Die Stadtverwaltung gibt moralische Unterstützung, aber kein Geld ■ Alexandra Schwerin von Krosigk
Ein Mann liegt im Schnee. Keiner beachtet ihn. Die Menschen um ihn herum warten auf die nächste Straßenbahn. Es ist ein grauer, kalter Tag Ende Februar in St.Petersburg. „Jeder, der irgendwo auf der Straße liegt, bleibt liegen“, sagt Waleri Sokolow und zuckt bedauernd mit den Schultern. Seit zwei Jahren setzt er sich für die Obdachlosen der Stadt ein und kann es doch nicht verhindern, daß sie irgendwo liegen bleiben und sterben – etwa alle zwei Tage einer.
Waleri Sokolow ist ein schlanker, großer Mann Anfang 30, seine Haare sind zwar nicht mehr lang, aber den Hippie in ihm erkennt man trotzdem noch. Nach einem abwechslungsreichen Vagabundenleben widmet er sich jetzt ganz seiner Vision: Obdachlosenunterkünfte für die Stadt zu schaffen, ganz einfache, in Fertigbauweise. Denn bisher gibt es keinen Ort für die 8.000 bis 10.000 Obdachlosen – sie übernachten in Treppenhäusern, Kellern und auf den Bahnhöfen. Sokolow hat schon genaue Pläne ausgearbeitet, das Projekt der Stadt vorgestellt – und es ist angenommen. Praktisch bedeutet das nichts, denn es fehlen die Gelder. „Bei uns wird man von allen unterstützt“, sagt Sokolow und kann sich ein ironisches Lächeln nicht ganz verkneifen, „aber sie unterstützen einen nur moralisch.“
Mit ein paar Freunden hat er Ende 1990 die erste und einzige Obdachloseninitiative in der Stadt gegründet. Raum fand er in der legendären Puschkinstraße Nr. 10, einem Künstlerhaus mit bunt bemalten Wänden. Im Vorderhaus hat sich Sokolow in einem Keller sein Büro eingerichtet. „Nachtasyl“ nennt er sein Projekt prophetisch. Doch kein Schild, kein Zeichen weist einem von außen den Weg. Die Menschen kommen über Flüsterpropaganda. Hier finden sie Trost, Rat und Hilfe. 11.500 Obdachlose haben sich bisher in der selbsterstellten Keller-Kartei registrieren lassen.
In der Suppenküche
In einem zweiten Keller hat Sokolow jetzt eine Suppenküche eröffnet. Für die Menschen, die dort hinkommen, ist es der einzige Ort in der Stadt, an dem sie umsonst etwas zu essen bekommen. Schweigend und gedankenverloren schlürfen sie ihre Suppe – Männer mit langen Bärten und zerfurchten Gesichtern, mit verkrusteten Wunden und Augen, die weit in die Ferne zu blicken scheinen. Auch ein paar Frauen sind da, ihre Gesichter abgezehrt und verhärmt. Und immer mehr junge Leute sind inzwischen auf Hilfe angewiesen. „Früher war es auch nicht besser“, erzählt stockend ein 29jähriger, der seinen Arbeitsplatz verloren hat. „Ich hatte zwar Arbeit, aber andere haben auch früher schon so gelebt. Nein, besser war es nicht. Und im Kommunismus haben die Obdachlosen sowieso alle im Gefängnis gesessen, weil sie keinen festen Wohnsitz und keine Arbeit hatten.“
Landstreicherei und Schmarotzertum nannte man das „Vergehen“, Folge des noch unter Stalin eingeführten Paßgesetzes, das auch heute noch gilt. Danach muß sich jeder in Rußland mit einem festen Wohnsitz registrieren lassen – dann bekommt er einen Stempel in den Paß, die sogenannte propiska. Ohne diesen Stempel läuft gar nichts: kein Arbeitsplatz, keine Lebensmittelkarten, keine Rechte, nicht einmal humanitäre Hilfe aus dem Westen ist für diese Leute erlaubt. Wer die propiska verliert, hat wenig Chance, eine neue zu bekommen. Und verlieren kann man sie schon durch einen Umzug. Die meisten büßen sie allerdings durch eine Gefängnisstrafe ein. Dann nämlich wird sie automatisch gelöscht. Eine zynische Regelung, denn bis Ende 1991 stand ein Leben ohne propiska unter Strafe. Mit der Entlassung aus dem Gefängnis bedeutete der erste Schritt in die Freiheit somit auch den ersten in die Illegalität. Ein Teufelskreis.
Dreißig Jahre lang habe er im Lager gesessen, platzt es aus einem Mann in der Suppenküche plötzlich heraus. Wegen aller möglichen Straftaten, was soll's, der Hauptgrund sei die propiska gewesen. „Ich wurde entlassen und in diesen Teufelskreis gestoßen. Ein, zwei Monate war ich in Freiheit, einmal sogar ein halbes Jahr – und dann immer wieder im Lager.“ Jetzt ist er gerade wieder entlassen worden und schlägt sich so durch, mal wohnt er bei Verwandten, mal auf dem Bahnhof.
Die Augen hinter der Brille blicken wach und aufmerksam. Der Mann erzählt von seinen vielen vergeblichen Versuchen, sich in Petersburg registrieren zu lassen. Sogar bei Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak hat er versucht vorzusprechen, wurde aber von irgendeinem fünften oder zehnten Sekretär abgewimmelt: „In der Stadt gibt es überhaupt keine Hilfe, ich habe alle Instanzen durchlaufen“, sagt er resigniert und bitter. „Es ist vollkommen nutzlos – durch die Bürokratie durchkommen zu wollen ist genauso, als wolle man durch eine Wand. Zwischen den Kommunisten und den heutigen Demokraten gibt es doch überhaupt keinen Unterschied, nur die Losungen haben sich verändert. Aber die Leute sind genau dieselben wie früher.“
Oberbürgermeister Sobtschak, der Reformer, war für die Menschen der große Hoffnungsträger. Doch die soziale Not hat sich nicht gebessert: die Gegensätze in der Stadt werden immer schärfer. Eine Übernachtung im teuersten Hotel kostet heute 300 Dollar. Davon könnte man in Rußland ein Jahr lang leben.
Walentina Iwanowa, seit sieben Jahren bomsch – die russische Abkürzung für „ohne festen Wohnsitz“ –, ist den Tränen nahe, als sie von ihren Lebensumständen erzählt. Den Krieg habe sie überlebt, die neunhundert Tage Blockade, den Kommunismus, aber jetzt sei sie am Ende: „Was wir alles durchgemacht haben, das weiß nur Gott allein, ehrlich, es ist schrecklich.“ Das Zimmer, in dem sie jetzt untergekommen ist, gehört zu einer ehemaligen Spelunke, in der sich die Leute ihren Wein holten. Die Miliz bekam ein bißchen Geld – und sah weg.
Und Walentina Iwanowa hinten in ihrem Zimmer hat alles genau mitbekommen. „Immer wenn die Nacht anbrach, dann fing nicht nur dieses Klopfen an – tuktuktuk – nein, sie traten auch mit den Füßen gegen die Tür. Sogar für mich als Erwachsene war das schrecklich.“
Erst recht aber für ihre Tochter Sweta. Mit sieben Jahren wurde sie von einem der Typen aus der Nachbarschaft vergewaltigt. Sie kam in ein staatliches Kinderheim, hielt es dort nicht aus, kehrte zu ihrer Mutter zurück, kam wieder ins Heim, lief erneut davon. Als die Miliz sie wieder holen kam, haute Sweta endgültig ab. Sie hat sich zu den Straßenkindern auf dem Moskauer Bahnhof gesellt, sucht sich wie die anderen in dem Wartesaal hinter der großen Haupthalle einen Schlafplatz, immer wieder auf der Flucht vor der Miliz.
Zu Hause, Heim und Flucht
„Die Weitervermittlung von Straßenkindern ist eine zeitaufwendige Sache für die Miliz“, erklärt Andrej Artemtschuk, der sich seit vier Jahren um sie kümmert. Die Milizionäre haben keine Lust, sich mit diesen Kindern abzumühen, die ja doch immer weglaufen. Für die Mädchen allerdings wird das Leben auf der Straße immer gefährlicher. Die Mafia hat es auf sie abgesehen: sie werden vergewaltigt und verkauft, also zur Prostitution gezwungen.
„In der öffentlichen Meinung war ein Straßenkind früher entweder ein Verbrecher oder ein Psychopath“, sagt Andrej. Inzwischen wächst das Verständnis für die Probleme der Kinder. Andrejs „Blaue Krähe“, seine Zufluchtstätte für Straßenkinder, ist schon stadtbekannt. Aber auf Dauer aufnehmen kann er die Kinder nicht, es gibt nur 30 Plätze. „Unser Ziel ist es, ihnen so viel Liebe, Kraft und Rückhalt zu geben, daß sie stark genug sind, um wieder in ihre Familien zurückgehen zu können.“
Es ist ein langer und schwieriger Weg, den Kontakt zu den Familien wiederherzustellen, die meisten sind völlig zerrüttet und kaputt. Ein etwa achtjähriger kleiner Junge auf dem Bahnhof beschreibt sein Familienleben so: „Einen Vater habe ich nicht, meine Mutter ist arbeitslos und sitzt den ganzen Tag in der Wohnung. Sie trinkt, und sie schlägt mich.“
Viele Kinder versuchen dem tristen Alltag mit Rauschmitteln zu entfliehen. Meistens schnüffeln sie Klebstoff, manche greifen auch schon zu Opiaten. Drogenkarrieren fangen heute mit 14 Jahren an.
Abseits vom Zentrum findet im Kirow-Kulturpalast zweimal wöchentlich eine Drogenberatung statt. In dem kleinen Zimmer im ersten Stock ist Hochbetrieb. Ständig klingelt das Telefon. Dima Ostrowski, Gründer der Drogen- Selbsthilfeinitiative, ist für viele der einzige Rettungsanker. Swetlana, die elf Jahre lang süchtig war, entdeckte die Telefonnummer seines Notrufdienstes zufällig in einer Zeitung. Sie schrieb sie sich für alle Fälle raus, und vergaß sie wieder. „Doch dann brach ich zu Hause plötzlich zusammen, meine rechte Seite war auf einmal gelähmt. Ich war allein mit meinem Kind und konnte gerade noch zum Telefon kriechen, wußte aber nicht, wen ich anrufen sollte. Daß meine Freunde mir nicht helfen würden, war klar.“ Plötzlich fiel ihr die Nummer aus der Zeitung wieder ein. Aber daß dann tatsächlich Hilfe kam, darüber ist sie bis heute erstaunt.
Dima Ostrowski versucht, Drogensüchtigen nach dem Entzug eine neue Orientierung zu geben – weg von der Droge, hin zu Gott. Für Swetlana war das Wesentliche, daß sich jemand wie ein Mensch zu ihr verhält. „Das waren Menschen wie ich selber, oder ehemalige Drogenabhängige, oder gläubige Menschen, die wegen Christus, also wegen mir, wegen ihrem Nächsten, halfen. Da begann meine Heilung. Das war kein körperliches Gesundwerden, sondern ein seelisches.“
Am Abend in der Einzelberatung spricht Dima Ostrowski mit einer Frau, die seit 20 Jahren Opiate nimmt. Jetzt könne sie sich die Droge einfach nicht mehr leisten, sagt sie: „Ich bin arm geworden. Früher konnte ich alles bekommen, aber jetzt sind die Preise sehr gestiegen. Ich bin müde geworden. Jeden Morgen stehst du auf, und das erste, was du denkst, ist: eine Spritze. Das ist alles.“ Sie wollte in einem Krankenhaus entziehen, aber dort gab man ihr nur eine Liste mit Medikamenten. „Man sagte mir: Wenn du all diese Medikamente besorgt hast, komm wieder – dann werden wir dich heilen.“ Aber Medikamente sind nur noch zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt zu bekommen.
Der ganze Bereich der sozialen Versorgung ist heute in St.Petersburg ein einziges großes Experiment. Offiziell kümmert sich niemand darum und ist niemand zuständig. Das ist die Stunde der privaten Initiativen, aber wenn sie in ihrer Arbeit nicht gefördert und mit Geldern unterstützt werden – aus dem Westen –, dann ist ihre Stunde bald schon wieder abgelaufen. Und dann bleiben die Straßenkinder, Obdachlosen und Drogenabhängigen wieder sich selber überlassen.
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