: Plötzlich ist Armut kein Tabuthema mehr
Die Gewalt in Indien beginnt Gegenkräfte zu mobilisieren ■ Aus Bombay Bernard Imhasly
In der Parlamentsdebatte über das Bombenattentat in Bombay gipfelte die Kritik eines Abgeordneten der BJP-Opposition im Ausruf: „Wenn wir nicht aufpassen, wird Indien bald wie Italien aussehen.“ Niemand lachte über die ohne die geringste Ironie ausgesprochene Warnung. Sie ist ein Indiz dafür, daß traumatische Ereignisse wie die Gewaltakte der letzten Monate in Indien womöglich bedeutend rascher verarbeitet werden als im westlichen Ausland, das Unruhen oft allzuschnell mit einer strukturellen Instabilität gleichsetzt. Das hängt zunächst mit der Größe des Landes zusammen, in dessen Tiefe politische Aufwühlungen verebben können. Aber selbst in den städtischen Regionen mit ihren Slums sind traditionelle Bindungen noch weitgehend intakt geblieben und federn die politische Unruhe ab.
„Es ist gerade die Häufigkeit der Krisen, welche dem System Stabilität gegeben hat“, meint ein französischer Banker in Bombay und spricht von der erstaunlichen Reaktion der lokalen Bevölkerung, nachdem eine zeitlich abgestimmte Serie von Bombenanschlägen am 12.März Teile der Stadt in eine Kriegszone verwandelt hatte. „Es brach keinerlei Panik aus, und an den Explosionsorten bildeten sich wie von selbst Gruppen von Helfern – Verkehrslenkern, Ambulanzenfahrern, Erste-Hilfe-Teams.“
Die Börse, mit über 60 Toten und Hunderten von Brandgeschädigten am härtesten getroffen, öffnete am folgenden Montag mit nur einer Stunde Verspätung. Vor dem zerbombten Eingang hatten die Kleinhändler bereits wieder ihre Stände mit Eßwaren und Tee aufgestellt. Der Market Report des Finanzbrokers Jamal Mecklai begann seinen Bericht vom 16.März mit dem Titel „Send no flowers, India Inc. is alive and well“ und fuhr fort: „Die schreckliche Serie von Bombenanschlägen ist ein weiteres Zeichen, daß Indiens Wirtschaft in Bewegung ist.“ Die Reaktion der Bombayer Bevölkerung zeige, daß sie sich nicht einschüchtern läßt. Im Gespräch wehrt sich Mecklai gegen den Vorwurf des Zweckoptimismus. Die Wahl der Ziele stützt nach ihm die Vermutung von Premier Rao, daß mit den Anschlägen der wirtschaftliche Liberalisierungsprozeß sabotiert werden sollte.
Profitabler Schmuggel
Die Schmuggeltätigkeit der Bombay-Unterwelt, die er dafür verantwortlich macht, ist nicht ein ökonomisches Randphänomen, das die Touristen mit japanischen Batterien und Gillette-Rasierklingen versorgt. Zeitungsberichten zufolge hat allein der illegale Silber- und Goldhandel im Jahr 1991 rund fünf Milliarden Dollar umgesetzt. Die Liberalisierung des Edelmetallhandels droht – bei Margen von 20 Prozent und mehr – den Schmuggelsyndikaten allein in dieser Sparte eine Milliarde Dollar an Verlusten einzubringen.
Einer der Unterweltbosse von Bombay, Dawood Ibrahim, soll von seinem „White House“ am Stadtrand von Dubai aus ein Unternehmen lenken, das 10.000 Menschen unter Vertrag hat. Indien ist weltweit der größte Konsument von Gold und Silber; bis zum Beginn der Reformen war deren Einfuhr verboten. Zusammen mit einem florierenden Drogenexport bildete daher der Schmuggel von Gold und Silber sowie von (noch immer gesperrten) Konsumgütern einen wichtigen Bestandteil der Parallelwirtschaft, die auf 30 Prozent der gesamten ökonomischen Tätigkeit geschätzt wird.
In den Armenquartieren von Bombay kennt jedermann den Namen von Dawood Ibrahim. Seine Karriere vom Dorfjungen zum „Slumlord“ in Bombay, von da zum Herrscher über die lokale Unterwelt war schon öfter Vorlage für populäre Filme. Doch selbst wenn die muslimischen Straßenjungen der Mohammad Ali Road in ihm eine Kultfigur sehen und der Finanzmann Mecklai darin den Profiteur eines protektionistischen Wirtschaftssystems erblickt – für viele Hindus ist Dawood Ibrahim zuerst und zuletzt der Träger eines muslimischen Namens.
In Nehru Nagar kümmert die Leute wenig, daß eine der Bomben mit der Börse einen Pfeiler des indischen Wirtschaftssystems treffen sollte. Für sie ist es das nächste Kapitel im Krieg zwischen Hindus und Muslimen. Im Dezember und Januar waren Anhänger beider Gruppen Opfer der Unruhe geworden; doch es waren die Muslime, die bei weitem die meisten Opfer zu beklagten hatten. Der „Schwarze Freitag“ des 12.März ist für die Hindus ein Racheakt, ausgeführt von jenen, die über Geld und Waffen verfügen – die Schmuggel-Mafia, traditionell ein Reservat der Muslime.
Die Sozialarbeiterin Sushobha Barwe berichtet, daß selbst sie Schwierigkeiten hatte, sich in den Tagen nach den Explosionen Zutritt in die Armensiedlungen zu verschaffen: „Die Leute dort sind zornig. Man kann den Haß regelrecht spüren, und obwohl ich Hindu bin und aus Maharashtra stamme, brauchte ich lange, um die Menschen zum Reden zu bringen.“ Die Muslime im benachbarten Dharavi bestätigen diese Interpretation. Khazi Nasrul Islam, der es in der Maschinenfabrik von Godrej & Sons bis zum Ingenieur gebracht hat, sieht im Bombenattentat auf die Börse zwar auch einen Angriff auf die Wirtschaft – aber mit starken religionspolitischen Untertönen: „Im Januar griffen die Hindus die muslimischen Handwerker an – die Baumwollweber, die Bäcker, die Schuhmacher. Für die meisten Leute ist die Börse beherrscht von den hinduistischen Händlerkasten, den Gujeratis und Marwaris. Sie sind es, welche die BJP finanziell unterstützen. Die Bomben sind daher ein Warnzeichen an die Hindus und die politischen Parteien, nicht mit muslimischem Besitz zu spielen.“ Er und seine Freunde versuchen, ihre verängstigten Nachbarn zur Vernunft zu bringen und mit ähnlich gesinnten Hindus einen Dialog zu beginnen. Bei aller Ablehnung von Gewalt und Einsicht einer Eskalationsgefahr können aber auch sie ein Gefühl der Genugtuung nicht verbergen.
Rückbesinnung auf Gandhi
Für die Elite waren die Ausschreitungen im Januar ein brutaler Schock: zum ersten Mal blieben sie nicht auf die Armenquartiere beschränkt, sondern schwappten selbst auf die Luxusappartements des „Malabar Hill“ über. Nachbarn, von denen man nicht einmal wußte, daß es Muslime waren, wurden bedroht, ihre Autos angezündet und die Chauffeure zusammengeschlagen. Inzwischen werden wieder Parties veranstaltet, die die Welt von Geld und Geist zusammenbringen.
Doch plötzlich ist es nicht mehr tabu, über Armut zu reden, und es gehört schon beinahe zum guten Ton, sich an einem der zahlreichen Projekte zu beteiligen, die der Schock der Januartage ausgelöst hat. Die zahlreichen Friedenskomitees – bestehend aus Filmstars und Werbeleuten, Bridge-Damen, Anwälten, Journalisten und Managern – sind nach Abflauen der Unruhen nicht einfach verschwunden. Viele von ihnen haben den Kontakt mit einer der zahlreichen Gruppen gesucht, die zum Teil schon jahrzehntelang in den Slums tätig sind und dort kleine Ausbildungsprojekte, Rechtshilfebüros oder einen einfachen Gesundheitsdienst betreuen. Oder sie sind auf eigene Faust losgezogen und haben es – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – gewagt, ihren Fuß in einen Slum zu setzen.
Sushobha Barwe ist eine solche Frau aus der gehobenen Mittelklasse, die ihren von Teekränzchen und Einkäufen bestimmten Alltag mit dem täglichen Gang in eine Armensiedlung vertauscht hat. Da sie keine anderen Qualifikationen mitbringt als die Bereitschaft zu helfen, wußte sie anfangs gar nicht, was auf sie zukam. „Als im Dezember die Unruhen ausbrachen, wußte ich nur, daß ich etwas tun mußte.“ So ging sie einfach in den Slum von Dharavi, in die Hütten von Muslimen und Hindus, sprach mit den Wache schiebenden Polizisten, trank Tee mit dem fanatischen Mullah und dem lokalen Parteisekretär der chauvinistischen „Shiv Sena“.
Sie begann den Leuten zuzuhören und fand bald, daß sie damit eine essentielle Funktion erfüllte: den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich Gehör zu verschaffen – den Ängsten der von Hindus umringten Muslim-Webern, der aufgestauten Wut kastenloser Straßenkehrer, den Alltagssorgen um Wasser und Nahrung, der Bitte um eine Intervention bei der Polizei. Seitdem ist sie zu einem wichtigen Glied in einem fragilen System des Konfliktmanagements geworden, und es vergeht praktisch keine Nacht, wo sie nicht Anrufe von verängstigten Dharavi-Bewohnern erhält, die einen Angriff befürchten. „Natürlich ist es, wenn Sie wollen, enlightened self-interest, denn am Anfang hatte ich einfach Angst um die Erhaltung meines Lebensstandards“, meint Frau Barwe. Aber der Kontakt mit der realen Armut hat mehr bewirkt: er hat plötzlich Möglichkeiten der eigenen Veränderung eröffnet. Er hat auch gezeigt, daß die indische Gesellschaft imstande ist, Warnzeichen wahrzunehmen. Usha Mehta, die Mahatma Gandhi noch gekannt hat und heute das kleine Gandhi-Museum in Bombay betreut, drückt es mit den Worten des indischen Nationalheiligen aus: „Nach der Welle von Gewalt in den letzten Monaten haben viele Menschen plötzlich die Wahrheit des Spruchs von Gandhi erfaßt: „Mitten im Tod ist Leben, mitten im Haß liegt Liebe.“
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