: Streiken mit der Angst im Bauch
Premiere im Osten: Ab Donnerstag wollen die Metaller mit Warnstreiks für ihren Tarifvertrag kämpfen/ Sächsische ArbeiterInnen zwischen Wut der Betrogenen und Sorge um ihren Arbeitsplatz ■ Von Detlef Krell
Es liegt etwas in der Luft bei Siemens in Görlitz. Der Lärm von Drehmaschinen und der schwere Geruch von Öl und heißem Metall, die Unrast eines ganz normalen Arbeitstages und eine fast nervöse Spannung. Stunden noch, und die letzte Frist für den Tarifvertrag ist abgelaufen. Was dann in die Lohntüten kommen soll, reicht zum Leben nicht mehr, wissen die KollegInnen. Warnstreik, sagt die Gewerkschaft. Arbeiten, sagt das schlechte Gewissen.
„Wenn sich gütlich geeinigt würde, wäre das am besten“, faßt der Vorarbeiter Klaus Bursche die Meinung aus der Werkhalle zusammen, „am liebsten wäre uns, wenn es nicht zum Streik käme.“ So kurz vor dem Ausstand, das wäre schon „eine ganz unangenehme Situation“. Er könne sich „einen Streik noch gar nicht richtig vorstellen“.
Doch an „gütliche Einigung“ glaubt auch niemand mehr ernsthaft. Wenn es denn sein muß, werden sich die Görlitzer SiemenswerkerInnen an den Warnstreiks der sächsischen Metaller beteiligen. Jedenfalls ist der Betriebsrat davon überzeugt. „Wir dürfen uns den Angriff auf die Tarifautonomie der Gewerkschaft nicht gefallen lassen“, argumentiert Wolfgang Kupka, der Betriebsratsvorsitzende. Als er das neulich auf der Belegschaftsversammlung erklärte, bekam er zwar Beifall. Aber danach sind die KollegInnen wortlos nach Hause gegangen.
„Die Angst um den Arbeitsplatz überwiegt alles andere“, weiß Meister Manfred Schenk. In der Annahme, den Job zu halten, spiele mancher schon mal mit dem Gedanken, einfach aus der Gewerkschaft auszutreten. „Hier fehlen eben noch die Erfahrungen“, begründet er die Panik. „Da sitzt man an einem eiligen Auftrag, weiß, wenn der nicht kommt, dann macht ihn ein anderer Betrieb, und nun dieser Streik.“
Er will sich nicht darauf festlegen lassen, daß die KollegInnen zum Warnstreik bereit seien. „Da muß jeder selbst den Mut haben, seinem Vorgesetzten zu sagen: Ich bin Gewerkschafter, und ich lege für mein Recht eine Stunde die Arbeit nieder.“
Die Turbinenwerke Görlitz sind ein traditionsreiches Unternehmen, dessen Klinkerfassade sich nahtlos in das Gründerzeitviertel der Neißestadt einreiht. Seit 1903 werden hier Generatoren gefertigt. 1945 wurde die Waggon- und Maschinenbau AG als Rüstungsproduzent enteignet und der Betrieb zum Teil demontiert. Der VEB Görlitzer Maschinenbau fertigte ab den fünfziger Jahren Dampfturbinen und Kondensatoren. In den Hallen der alten Gießerei drehte die DEFA einige Szenen ihres berühmten Ernst-Thälmann- Films.
Gleich nach dem Fall der Mauer kam Siemens und erwählte die Firma zur hundertprozentigen Tochter. Mittlerweile ist sie das größte der bereits privatisierten Görlitzer Unternehmen. 839 Beschäftigte zählt sie noch, bis Jahresende werden es noch 800 sein, das sind 1.000 weniger als zur Währungsunion.
Auf dem Betriebsgelände, eingezwängt zwischen Bahnhof und Wohngebiet, haben örtliche Baufirmen noch ein gutes Stück Arbeit vor sich. Neue Werkhallen werden gebaut, in den alten warten schon neue Maschinen auf den Umzug. Alles vielversprechende Zeichen für die industrielle Oase. Hier werden nicht nur Bauteile über eine verlängerte Werkbank geschoben. „Im Gegenteil“, Betriebsrat Kupka kann auf „ein eigenes Marktsegment“ verweisen, denn „wir sind ein kompletter Fertigungsbetrieb, von der Entwicklung und Konstruktion bis zum Vertrieb“. In die alten Bundesländer und in den Nahen Osten werden die meisten Görlitzer Turbinen derzeit verkauft.
In der zuständigen IG-Metall- Geschäftsstelle in Bautzen ist man der Meinung, daß Siemens ohne Probleme nach Tariflöhnen zahlen könnte. So sieht das auch der Betriebsrat. Doch „unsere Geschäftsführung handelt mit Verbandsdisziplin“, legt Wolfgang Kupka die Lage dar.
Er ist überzeugt, daß die Geschäftsführung „über 26 Prozent nicht diskutieren würde“. Doch aus der Verbandslinie auszuscheren, das könne nun wirklich niemand verlangen, bekundet er Verständis für die Chefetage. Ein Lehrbeispiel habe doch die Geschäftsführung der Deutschen Waggonbau Union gegeben. Nachdem der Treuhandbetrieb auf der Leipziger Messe erklärt hatte, nach Tarif zahlen zu wollen, „hatte er zwei schwere Nächte“, wie bei der Bautzener IG Metall zu erfahren war. „Der hat sich aus dem Fenster gelehnt und ist naß geworden“, kommentieren die Görlitzer. Danach ist das Versprechen dementiert worden.
„Es ist aber auch jedem klar“, entgegnet Klaus Bursche, „daß er mit der beabsichtigten Lohnsteigerung von 9 Prozent gerade mal über den Sozialhilfesatz in Bayern käme.“ Deshalb werden die Kumpels wohl doch auf die Straße gehen. „Ein Facharbeiter in der Lohngruppe 7 geht jetzt mit 1.400 Mark auf die Hand nach Hause.“ Davon sei in der Presse und bei den Politikern aber nie die Rede, wenn es heißt: Die Metaller wollen 26 Prozent mehr Geld.
Der Speisesaal des Turbinenwerks ist hingebungsvoll renoviert worden, als wäre er eines der Baudenkmäler dieser Stadt. Auf dem Weg zum Essen staut sich eine Traube vor der Wandzeitung. Dort hängt ein Schreiben des Gesamtbetriebsrats von Siemens, auf dem hinter die „Schlag-Zahl“ 26 geleuchtet wird. „Selbst die Gewerkschafter im Westen waren erst irritiert“, erinnert sich der Betriebsrat an seinen Auftritt in München.
Das Rechenexempel an der Wandzeitung belegt, daß die Sachsen bis 31. März bei nur 52 Prozent des Realeinkommens ihrer bayerischen KollegInnen liegen. Bei „voller Umsetzung des Tarifvertrages“ würden sie bei 56,5 Prozent ankommen. Die vom Arbeitgeberverband angebotenen 9 Prozent würden die sächsischen Metaller auf 49,6 Prozent gegenüber dem zur gleichen Zeit gestiegenen Einkommen der Bayern zurückwerfen.
„In der Lohngruppe 7 wären das 159 Mark mehr. Das entspricht ungefähr der jüngsten Mietsteigerung“, begründet Vorarbeiter Bursche seine Streik-Bereitschaft. Meister Schenk kommt noch einmal auf die Stimmung in der Halle zurück: „Die Leute sind hoch motiviert, aus dieser Firma etwas zu machen. Und es ist schade, daß diese Motivation jetzt durch eine falsche Tarifpolitik gebremst wird.“
Einen Zahn schärfer äußern sich die Teilnehmer einer Kundgebung in Bautzen. Auf der Industriebrache des Robur-Werkes versammeln sich am Montag morgen mehr als eintausend MitarbeiterInnen sogenannter Arbeitsbeschaffungs- und Beschäftigungsgesellschaften (ABS) in der Oberlausitz, die nach Tarifen der Metaller bezahlt werden. Ihnen steht das Wasser bis zum Hals, denn seit der Verkündung des ABM-Stopps werden, wie mehrere Geschäftsführer erklärten, keine neuen Projekte mehr bestätigt.
Trotz „Tag für Tag neuer Verlautbarungen in der Presse“ sei es „zum totalen Stillstand von Arbeitsförderungsprojekten“ gekommen, resümiert der Geschäftsführer der ABS Schienenfahrzeug und Landmaschinenbau. Etwa 3.000 Leute in der strukturschwachen Region Oberlausitz, die nach ihrer Entlassung in diesen Gesellschaften „geparkt“ worden sind und sich dort auf einen neuen Job vorbereiten wollten.
„Das wird ein harter Kampf“, kündigte IG-Metall-Sekretär André Koglin an, und die bei klirrender Kälte frierenden Kundgebungsteilnehmer mochten da auch nicht lange herumreden. „Was soll sonst werden“, stellt ein ABSler aus dem einstigen Schaltelektronikwerk Oppach fest, „die“ Arbeitgeber „wollen's doch nicht anders. Klar, daß wir in Warnstreik gehen. Und das wird dann hoffentlich reichen.“ Wenn die rechtswidrige Kündigung des Tarifvertrages aufrechterhalten werde, rechnet ein anderer vor, dann müßte er als ABSler mit 1.040 Mark nach Hause gehen. Angenommen, er würde arbeitslos, bekäme er noch 707 Mark auf die Hand. „Wer soll hier davon noch die Westpreise bezahlen?“
Sein Nachbar ärgert sich darüber, daß die Chefs in den privatisierten Unternehmen alles auf den Verband schieben, ohne selbst dort für Bewegung zu sorgen. „Also müssen wir Druck machen.“ Auf den Vorstoß der Waggonbau- Union anspielend, meint er, es gäbe viele Geschäftsführer, die mit dem Beschluß des Verbandes nicht einverstanden sind. „Die müssen wir unterstützen.“ Seinen Namen will er aber nicht nennen. „Was weiß ich, was mir dann in meiner Firma blüht. Aber auf jeden Fall stehen wir am Ersten vor dem Werktor.“
Geschäftsführer Birnbaum von der ABS Zittau, der sich „nicht als normaler Arbeitgeber“ versteht, erklärt seinen Konflikt: Er soll dem Amt für Arbeit zufolge entweder Teilzeit-ABM mit 80 Prozent oder Vollzeit-ABM mit 90 Prozent entlohnen. Beides habe die Gewerkschaft zu Recht abgelehnt, doch „der Schwarze Peter“ liege nun bei ihm.
Als „abenteuerliche Lüge“ brandmarkt André Koglin die Behauptung des Arbeitgeberverbandes, daß der Tarifvertrag in den sächsischen Unternehmen 3.000 Entlassungen zur Folge hätte. „Kein einziger Geschäftsführer in Ostsachsen“ hätte bisher „unter vier Augen oder offiziell“ erklärt, daß er den Tarif nicht zahlen könnte oder gar den Betrieb schließen müßte.
Nicht nur MetallerInnen sind an diesem Morgen auf das verlassene Gelände des einstigen Robur- Werkes gekommen. Ein Sprecher der ÖTV kündigt an, daß seine Gewerkschaft die Aktionen der IG Metall unterstützen wird. „Nicht durch Reden. Solidarität zeigen, das heißt für uns: mindestens durch Warnstreiks.“
Aus mehreren Textilbetrieben der Oberlausitz ist die ABS „Future“ hervorgegangen. Deren Bestand sei nach dem ABM-Stopp mehr als fraglich, informierte Kollegin Richter. Anwürfen aus der Politik hält sie entgegen: „So effektiv wie diese Politiker arbeiten unsere Betriebe allemal.“ 50 Prozent der Ministergehälter in Bonn und Dresden, das wäre immer noch überbezahlt, meinte die resolute Rednerin, die das frierende Volk auf dem Platz zu „mehr Selbstbewußtsein“ aufruft.
Damit auch der Letzte merkt, daß am 1. April nicht gescherzt wird, verliest André Koglin auf der Kundgebung die Liste mit den Stellplätzen. Nicht nur vor den Betriebstoren, auch auf zentralen Plätzen der Städte und Gemeinden wollen die MetallerInnen die gelbe Karte zeigen. „Haltet euch ja nicht heraus“, warnt der Gewerkschafter mit dem Gewicht seiner West- Erfahrung, „wer nicht teilnehmen will, soll gleich unterschreiben, daß er auf Lohnerhöhungen verzichten möchte.“
Etwa 12.000 Beschäftigte in der Region Oberlausitz/Niederschlesien sind von der Kündigung des Tarifvertrages betroffen. „Ich weiß, daß viele noch Angst haben, in den privatisierten Betrieben am meisten“, räumte er am Rand der Kundgebung ein. 9.000 Teilnehmer an den Warnstreiks würden trotzdem erwartet.
„Wir hoffen, daß es zum Streik gar nicht kommt. Wenn viele KollegInnen am 1. April teilnehmen, kommen die Arbeitgeber vielleicht zur Vernunft.“
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