: Subkutanes Selbstverständnis
Die Sensibilisierung für die Politik des Dritten Reiches ist kaum zurückgegangen ■ Von Hans Mommsen
Mit dem Zerfall des Ostblocks, dem Scheitern der realsozialistischen Politik und der Vereinigung Deutschlands ist das Ende der Nachkriegszeit eingeläutet, damit auch das Ende der Zwischenkriegszeit. Es ist legitim, die Frage aufzuwerfen, ob unter den veränderten weltpolitischen Bedingungen nicht auch das Verhältnis zur nationalsozialistischen Zeit normalisiert und die Erinnerung daran die traumatische Dimension verliert, die sie in der Bundesrepublik gehabt hat.
Ausdrücklich ist darüber im Historikerstreit 1985/86 debattiert worden, bei dem es eigentlich um die Frage ging, ob es nicht an der Zeit sei, einen kraftvollen deutschen Nationalismus zu entfalten, der sich von der Beschwörung nationalsozialistischer Verbrechen freimacht.
Keine Wählerstimmen für nationale Ressentiments
Heute haben sich die Rahmenbedingungen, in denen die Historikerdebatte stand, grundlegend geändert. Der Antikommunismus ist zwar noch immer in den Köpfen einer sich zu Wort meldenden neuen Rechten lebendig, die den Deutschen „Machtvergessenheit“ (Hans Peter Schwarz) oder „Angst vor der Macht“ (Gregor Schöllgen) sowie mangelnde Staatsgesinnung vorwirft, besitzt aber mit dem Zerfall des kommunistischen Systems nurmehr die Bedeutung eines Nachtarockens, das sich gegen diejenigen richtet, die um der Entspannung und Humanisierung der konkreten Lebensbedingungen in der DDR willen bereit waren, die deutsche Einheit hintanzustellen.
Der Versuch Michael Stürmers, sich zum Wortführer eines neuen deutschen Nationalismus zu mausern, war im Grunde schon mit den Bundestagswahlen von 1987 gescheitert, bei denen es sich zeigte, daß die Mobilisierung nationaler Ressentiments den Unionsparteien keineswegs die erhofften Wählergewinne brachte und daß es statt dessen angeraten war, ihre Klientel mehr bei der linken Mitte zu suchen.
Mit den Ereignissen von 1989, dem Fall der Mauer, der Auflösung der DDR, dem Einigungsvertrag und der Einbeziehung der neuen Bundesländer in die „alte“ Bundesrepublik hat sich die Konstellation gegenüber jener der Tage des Historikerstreits grundlegend geändert. Es bedarf nicht mehr der Ersatzstrategien, um das angeschlagene nationale Selbstbewußtsein der Deutschen durch die Schaffung historischer Museen in Berlin und Bonn und durch die historische Relativierung des Nationalsozialismus zu kompensieren.
Dafür bieten sich handfeste politische Chancen genug, so daß es solcher historischen Selbstbespiegelung nicht mehr bedarf. Der Appetit nach selbstbewußtem Auftreten in der Welt, so dem Einsatz deutscher militärischer Verbände nötigenfalls auch für kriegerische Friedenssicherung, ist auf der Rechten allenthalben gewachsen.
Manchesmal möchte man fürchten, daß sich die deutsche politische Kultur geradenwegs in die Gefilde der Weimarer Republik zurückbegibt, die durch fehlenden innenpolitischen Grundkonsens und gnadenlose Ausspielung nationaler Ressentiments zu parteipolitischen Zwecken geprägt war.
Wir waren ein Volk
Nur für einen Moment hatte es den Anschein, als würden die Deutschen in einen ungebrochenen gesamtdeutschen Nationalismus zurückfallen, als sich die Leipziger Demonstranten anschickten, die Parole „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ zu verwandeln und nationale Embleme in den Vordergrund drängten. Spätestens der Einigungsvertrag ließ diese Träume zerrinnen und löste Ernüchterung aus.
Niemals waren die mentalen Vorbehalte der West- und Ostdeutschen gegeneinander so ausgeprägt wie unter den Bedingungen der weitgehend gescheiterten Strategie, die deutsche Teilung durch bloße Übertragung des marktwirtschaftlichen Systems zu überwinden. Jedenfalls hat die Normalisierung, als die der Zusammenschluß der beiden deutschen Gemeinwesen, der vielleicht besser als Heimfall des bankrotten SED-Regiems an den westlichen Gläubiger anzusehen ist, keineswegs zu einer Regenerierung des klassischen deutschen Nationalismus etwa Bismarckscher Prägung beigetragen.
Vielmehr herrscht, vor allem bei den unter 40jährigen, eine weitgehende nationale Indifferenz vor, die gutenteils so weit geht, daß sie der Vereinigung eher gleichgültig bis distanziert gegenüberstehen.
Dabei hat es an Versuchen der Bundesregierung, die nationale Karte auszuspielen und nationale Ressentiments zu mobilisieren, nicht gefehlt. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß die Exzesse der Ausländerfeindschaft nicht zuletzt auf eine mehr oder minder systematische Kampagne der CDU/CSU zurückgingen, der Sozialdemokratie und vor allem den Grünen nationale Unzuverlässigkeit durch Hochspielen des angeblichen Asylmißbrauchs vorzuwerfen, statt konkrete Remedien zur raschen Bearbeitung von Asylanträgen auf den Weg zu bringen.
Pardoxerweise hat diese Strategie – flankierende Bestrebungen – gerade nicht zur Stärkung des nationalen Bewußtseins beigetragen, wohl aber zur subjektiven Akzeptanz rechtsextremer Emotionen. Damit hat sie den Fremdenhaß in Deutschland vorübergehend hoffähig gemacht.
Denn nationales Bewußtsein und Fremdenhaß sind hierzulande keineswegs identisch, vielmehr können sich Phobien durchaus auch gegen deutschstämmige Aussiedler richten, während westeuropäische Gastarbeiter davon ausgenommen werden. Nur vorübergehend schien es, als lasse sich die junge Generation von dieser aus Weimar geerbten autistischen Demagogie einfangen, die nationale Inhalte innenpolitischen Zwecken verfügbar zu machen sucht, als ob es kein außenpolitisches Prestige gäbe, das die Bundesrepublik darüber einzubüßen droht. In Nachahmung der Montagsdemonstrationen in Leipzig setzte sich gerade die junge Generation in vielen deutschen Städten, zunächst ohne Hinzutun der Berufspolitiker, gegen diese Vereinnahmung zur Wehr.
Desgleichen ist das Drängen der politischen Rechten darauf, die Erinnerung an die Epoche des Nationalsozialismus zurücktreten zu lassen, bemerkenswert wenig ergiebig. Nicht nur reißt die Mahn- und Denkmalsdebatte nicht ab, inzwischen bereichert durch die strittige Nebeneinanderordnung von Opfern des Nationalsozialismus und des Stalinismus; auch die Sensibilisierung für die Politik des Dritten Reiches ist kaum zurückgegangen. Andererseits herrscht in Deutschland, wenn es um derartige Themen geht, noch immer eine gewisse Verkrampfung vor, obwohl mit dem Generationswechsel ein selbstkritischer Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte voranschreitet. Wie sehr sich die interessierte Öffentlichkeit noch von der Frage schuldhafter Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen leiten läßt und apologetischen Erklärungsmustern anhängt, zeigte die Reaktion auf die Urheberschaft des Reichstagsbrands. Obwohl nach der Veröffentlich der entsprechenden Passagen des Goebbels-Tagebuchs an der Alleintäterschaft van der Lubbes kein ernsthaft begründeter Zweifel sein kann, kehrte die Mehrheit der deutschen Presse anläßlich des Jahrestags zum Ladenhüter der angeblichen Ungeklärtheit des Brandhergangs zurück.
Introvertierter Konsens
Die nachgerade unübersehbare Tendenz, im Hinblick auf die Geschichte des Dritten Reiches an liebgewordenen, weil apologetischen Tabus festzuhalten, hat sich nach der Wende nur wenig verändert. Man gewinnt den Eindruck, daß das subkutan vorhandene deutsche Selbstverständnis in hohem Maße durch eine introvertierte Verarbeitung des Nationalsozialismus geprägt ist, daß somit der Rekurs auf die nationalsozialistische Zeit unausgesprochen einheitsstiftender ist als alle schwächlichen Versuche, an die Geschichte des kleindeutschen Nationalstaats anzuknüpfen. Nichts war charakteristischer dafür als die emotionale Protestwelle, die Philipp Jenninger vom Stuhl des Bundespräsidenten unverstanden hinwegfegte, weil er im Klartext das beschrieben hatte, was sich tatsächlich während des Holocaust vollzog, durch zu ausführliche Zitate aus Heinrich Himmlers Posener Rede von 1943, die dieserhalb bestehenden apologetischen Schutzmauern durchstieß und damit an nationale Tabus rührte.
Verkrampfungen dieser Art und gewaltsame Verdrängungen unbequemer Wahrheit, so die intensive Teilnahme der deutschen Funktionseliten und auch der Bürger an einer zutiefst inhumanen Politik, spiegeln sich in starrem Festhalten an Hitlers dämonischen Führer- und Verführertum, in der stillschweigenden Beiseiteschiebung der Arisierung und Expropriierung der jüdischen Mitbürger, in der Verdrängung der Entschädigungsansprüche der Zwangsarbeiter vor allem aus den osteuropäischen Ländern. Gleichwohl rückt die Geschichte dieser Epoche schrittweise in die Gesamtheit der historischen Überlieferung ein, die mit der Auflösung der Sowjetherrschaft und dem Durchbruch der ost- und südosteuropäischen Nationalismen sich wieder ins 19.Jahrhundert hinein öffnet.
Vergleichende Diktaturforschung
Desgleichen hat die „Wiedervereinigung“ mit dem Zurücktreten des antikommunistischen Affekts ältere politische Fronten wieder hervortreten lassen. Dabei scheinen die Erfahrungen des Nationalsozialismus zurückzutreten. Mit Sorge ist zu konstatieren, daß die Rezessionsfurcht alle Hemmungen beiseiteschiebt, den in Weimar ausgebliebenen, nach 1945 mühsam herbeigeführten sozialen Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit um kurzfristiger Spareffekte willen aufs Spiel zu setzen und allenthalben den staatlichen Zugriff auszuweiten. Darin bekundet sich eine neue Unbekümmertheit, die erschrecken kann. Die Analyse der gesellschaftlichen Ursachen des Aufstiegs der NSDAP als Massenbewegung rückt erneut gegenüber einer undifferenzierten Pauschalablehnung des NS-Regimes in den Hintergrund und wird tendenziell durch eine vergleichende Diktaturforschung ersetzt, die überwundene Strukturen behandelt.
Für diese Form der Historisierung des Dritten Reiches ist die immer beliebter werdende Gleichsetzung von SED-Regime und NS- Herrschaft, deren apologetische Züge auf der Hand liegen, kennzeichnend. Zwar ist es legitim, das nationalsozialistische und das stalinistische Regime, zumal nach Aufdeckung neuer Quellen, zu vergleichen – und in den Attitüden Hitlers und Stalins findet sich erstaunliche Übereinstimmung –, aber es läuft auf eine Verkennung der Dimensionen des Terrors hinaus, das SED-Regime kurzerhand als Fortsetzung der nationalsozialistischen Diktatur zu deuten und damit zum zweiten Mal eine Eskamotierung der Verantwortung einzuüben. Das geschieht allzugern von seiten derer, die seinerzeit denjenigen, die für eine multikausale Deutung des Nationalsozialismus eintraten, dessen „Verharmlosung“ vorwarfen.
Historiographisch hat die Wende nicht zu einem Neubeginn, sondern eher dazu geführt, alten Wein in neue Schläuche zu füllen und sich mittels der vergleichenden Diktaturtheorie über die spezifischen Fehlleistungen der tradierten deutschen politischen Kultur hinwegzuhelfen. Die Erfahrung unserer Tage gibt jedoch allenthalben Anlaß dazu, sich der Frage zu stellen, ob der Lernprozeß, den die Deutschen nach 1945 vollzogen haben und der sie gegenüber nationalen Parolen skeptisch gemacht hat, tief genug greift, um die Abkehr von der Zuflucht zu Gewalt in der Politik langfristig zu garantieren. Das Menetekel des Nationalsozialismus bleibt, trotz aller Relativierung durch das verbrecherische Vorgehen der neuen nationalistischen Bewegungen innerhalb und außerhalb Europas, für die Deutschen bestehen.
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