: Die „Ausländerfrage“ war auch Arbeiterfrage
Arbeiterbewegung und Einwanderung im deutschen Kaiserreich: Schon Ende des 19. Jahrhunderts forderte die SPD ein Recht auf Einbürgerung / In den Gewerkschaften dominierte die Angst vor der billigen Lohnkonkurrenz ■ Von Martin Vorberg
Hannover, im Jahre 1892: Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen einheimischen und polnischen Arbeitern. Der Hintergrund war die gestiegene Arbeitslosigkeit und die Konkurrenz um Arbeitsplätze im Kanalbau.
Paris, 19.8.1893: „Infolge der Vorgänge in Aigues-Mortes herrschte gestern abend in den Vorstädten von Marseille, wo sehr zahlreiche italienische Arbeiter wohnen, große Erregung. Die Polizei erhielt sehr strenge Befehle für den Fall von etwaigen Verwickelungen“ (Neue Preußische Zeitung, 19.8.1893). Am 16. und 17. August hatten in dem von Salzminen geprägten südfranzösischen Städtchen Aigues-Mortes französische Arbieter italienische Zuwanderer angegriffen. Schätzungen zufolge gab es 50 Tote. Der Anlaß für die Gewalt: die Italiener waren bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten.
Im Frühjahr 1894 kommt es in Freiburg im Breisgau während eines Maurerstreiks zu „Zusammenstößen zwischen streikenden und italienischen Arbeitern.“ (Der Grundstein, Nr. 20/1894)
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatte die „internationale Konkurrenz der Arbeiter“ in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz äußerst gewalttätige Formen angenommen. Opfer waren bemerkenswert oft italienische Arbeitskräfte. Lohndruck und Konkurrenz, Streikbruch und Anspruchslosigkeit – dies alles machte die italienischen Wanderarbeiter und Einwanderer in den Augen vieler Einheimischer unsympathisch.
In den europäischen Zuwanderungsländern reagierten die Gewerkschaften auf die Herausforderung der Einwanderung keineswegs einheitlch. Von Anfang an war das Verhältnis der Arbeiterbewegungen in diesen Ländern zu ausländischen Arbeitskräften gebrochen. Schroff zeigten sich die Mischungsverhältnisse zwischen Anspruch und Alltag, zwischen Solidarität und Konkurrenz, ja mitunter zwischen Sympathie und rassistischer Ablehnung.
In Großbritannien forderten die Gewerkschaften Einwanderungsbeschränkungen. Ähnlich wie in den USA waren hier ausländische Arbeiter in den Gewerkschaften eher unerwünscht als gern gesehen. Anders die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich. Hier stand das Bemühen im Vordergrund, den Internationalismus der Arbeiter nicht durch deren „internationale Konkurrenz“ erdrücken zu lassen.
Im vielstimmigen Chor der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsverbände hatte die Maurergewerkschaft ein starkes Wörtchen mitzureden, wenn das Verhältnis zu ausländischen Arbeitskräften auf der Tagesordnung stand. Der Grundstein – damals wie heute Organ der Baugewerkschaften – erklärte 1895 zu den Forderungen der britischen Gewerkschaften nach Einwanderungsbeschränkungen: „Wir können uns prinzipiell nicht damit einverstanden erklären, daß man durch staatliche Gesetze gerade den Ärmsten der Proletarier die Möglichkeit nehmen will, dem Elend und der Bedrückung zu entfliehen und die Segnungen der Freiheit und Zivilisation kennen zu lernen.“
Diesem Votum blieben die freien Gewerkschaften bis zum Ersten Weltkrieg treu. Jedenfalls im Groben. Im Feinen dagegen machte seit der Jahrhundertwende mehr und mehr der Slogan von der „weisen Beschränkung der Einwanderung“ die Runde.
Es war ein Dreh- und Angelpunkt der ausländerpolitischen Strategie der freien Gewerkschaften, ihre Organisationen für Zuwanderer zu öffnen. Imposant nimmt sich die Liste der gewerkschaftlichen Aktivitäten zur „Agitation unter den fremdsprachigen Arbeitern“ aus. Von 1893 an brachten die sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbände jährlich mindestens einmal Flugblätter in polnischer, italienischer und tschechischer Sprache heraus. 1898 wurden erstmals eine italienisch- und eine polnischsprachige Zeitschrift gedruckt.
Pure Freundschaft und internationale Geschwisterlichkeit gaben dennoch nicht den Ton an im Verhältnis zu den ausländischen Arbeitern. Und auch zwischen den polnischen Zuwanderern deutscher Staatsangehörigkeit, die aus den damaligen preußischen Provinzen Oberschlesien, Posen, West- und Ostpreußen nach Westfalen, Norddeutschland und Berlin migriert waren, und den deutschen Gewerkschaftern spielten Ressentiments lange Zeit eine Rolle.
Auch die Deutschen hatten ihre Variante des Ausschlusses der Fremden: für die Beschäftigung bei öffentlichen Bauprojekten forderten die Gewerkschaften nachhaltig einen Vorrang für Inländer. Eine der Begründungen: ausländische Arbeitskräfte arbeiteten für Löhne, „bei denen der einheimische, seinem Vaterlande verpflichtete Arbeiter nicht bestehen kann“.
In der Praxis wurde der Drahtseilakt zwischen Solidarität und Abwehr zu Markenzeichen der deutschen Variante gewerkschaftlicher Ausländerpolitik. Im Sommer 1908 klagte das Funktionärsorgan der freien Gewerkschaften: „25.000 Ausländer werden bei öffentlichen Arbeiten beschäfigt in einer Zeit, da Hunderttausende deutscher Arbeiter ohne Arbeit sind, das heißt in der Tat, den einheimischen Arbeitern das Brot aus der Hand schlagen.“ Einige Wochen zuvor hatte sich dagegen Carl Legien ausdrücklich mit ausländischen Arbeitern solidarisch erklärt. Legien war Vorsitzender der freigewerkschaftlichen „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“.
Legien war zornig auf die staatliche Entrechtung ausländischer Arbeiter. Der Anlaß: In Preußen trat der berüchtigte Legitimationszwang für ausländische Arbeiter in Kraft. Dieses Kontrollsystem betraf zunächst lediglich die ausländisch-polnischen Landarbeiterinnen und Landarbeiter. Sie waren fortan während der gesamten Arbeitssaison – also vom Frühjahr bis zum Winter – an einen Arbeitsplatz gebunden. Gingen sie von dort wegen unerträglicher Arbeitsbedingungen fort, so mußten sie mit Abschiebung rechnen, wenn sie ohne gültige Legitimationskarte aufgegriffen wurden.
Legien dazu: „Wir fordern, daß unsere ausländischen Arbeitsgenossen ebenso behandelt werden wie die einheimischen Arbeiter, wir fordern, daß dieser kulturwidrige Erlaß beseitigt wird.“ Das waren keine leeren Worte: die Arbeiterbewegung konnte schon im eigenen Interesse einen Status ausländischer Arbeiter als „Lohnsklaven“ nicht akzeptieren. Nur bei gleichen poltischen Rechten, bei gleicher Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sahen Gewerkschaften und SPD Chancen für ein „befriedigendes Verhältnis zwischen den inländischen und den ausländischen Arbeitern“.
Das bedeutete auch: Ausschluß behördlicher Willkür durch gesetzliche Festlegungen bei Ausweisungen. Und vor allem eine drastische Erleichterung der Einbürgerung. Die Vorstellungen der SPD gingen im Kaiserreich weit über das hinaus, was engagierte Menschen heutzutage und hierzulande fordern. Ziel war ein gesetzlicher Anspruch auf Einbürgerung nach zweijähriger Niederlassungsdauer. Keine Frage, daß dies im Reichstag abgeschmettert wurde. Aber auch die alternativ von der SPD zur Debatte gestellten Kompromißvorschläge wurden abserviert. Die Reichstagsdebatte über das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz – 1912 hatte die Regierung einen Entwurf vorgelegt – bestätigte vielmehr das ethnische ius sanguinis („Recht des Blutes“) als Grundlage der Staatsangehörigkeit. Die Forderung der SPD von einst hat noch heute Zukunft.
Für die Gewerkschaften waren parlamentarische Debatten um Einwanderungspolitik und Ausländerbeschäftigung eher eine wichtige Nebensache. Bei ihnen stand die Agitation im Vordergrund. Das brachte direkte Kontakte mit zugewanderten Arbeitskräften mit sich. Die ausländischen und „fremdsprachigen“ Arbeitskräfte sollten beeinflußt werden, sich Streikbrecherdiensten zu verweigern, keine Löhne zu drücken und in die Gewerkschaften einzutreten.
Besonders im Baugewerbe war die Anwerbung von „Arbeitswilligen“ aus Italien, Böhmen und Oberschlesien, aber auch aus dem direkten Hinterland der Streikorte ein fester Posten in der Kampfstrategie der Arbeitgeber geworden. Nach Deutschland einreisende Italiener etwa wurden schon in Metz und Straßburg von „Streikbrecheragenten“ empfangen.
Trotz der Abschirmung der Arbeitswilligen durch die Polizei erreichten die örtlichen Gewerkschaften mitunter ein Abbröckeln der Streikbrecherfront.
Daß ausländische Zuwanderer sich an Streiks beteiligten, war keinesfalls eine Seltenheit. Im Jahre 1907 meldet der Grundstein aus Metz, daß die italienischen Arbeiter dort „wacker“ gestreikt hätten. Das zeige nur, daß sie „unter richtiger Leitung einen geordneten Kampf führen können“. Im Grunde ignorierte die hier anklingende wohlwollende Überheblichkeit Erfahrungen, die die Gewerkschaften schon Jahre zuvor mit streikbereiten ausländischen und deutsch-polnischen Zuwanderinnen und Zuwanderern gemacht hatten. So etwa 1897 bei einem spontanten Ausstand von Arbeiterinnen und Arbeitern der Nordwolle in Delmenhorst. Anerkennend hatte die Streikleitung damals festgestellt: „Die Arbeiter aller Nationen haben sich brüderlich bisher benommen, besonders haben die polnischen und böhmischen Arbeiter und Arbeiterinnen eine Einigkeit und Treue zur guten Sache an den Tag gelegt, was das Beste hoffen läßt.“ Anläßlich des großen Bergarbeiterstreiks, der 1905 im Ruhrgebiet stattfand, lobte der Bergarbeiterverband die multinationale Solidarität: „Eine wuchtige Klammer, der gemeinsam ertragene Druck des Kapitals, umspann sie alle, mochten sie politisch oder religiös denken wie sie wollten, mochten sie deutsch, polnisch, tschechisch oder italienisch reden.“
Dies war aber nicht nur ein Verdienst der deutschen Gewerkschaften. Der Streik von 1905 war vielmehr zugleich die Feuerprobe für die Polnische Berufsvereinigung (Zjednoczenie Zawodowe Polskie/ZZP), eine Gewerkschaft inländisch-polnischer Arbeiter, die 1902 in Bochum von polnischen Journalisten gegründet worden war. Vor allem Bergleute waren hier organisiert.
Entstanden war die polnische Gewerkschaft unter dem Druck des antipolnischen Nationalismus. Auch die deutschen Gewerkschaften hatten es offenbar nicht vermocht, den Ruhrpolen in ihren Reihen ein Stück Heimat zu geben. Andersherum erschien dem Bergarbeiterverband die Gründung einer gewerkschaftlichen „Sonderorganisation“ als besonderer Frevel. Galt es doch, gerade angesichts der Zersplitterung der Bergarbeiterschaft, die „Gewerkschaftseinheit“ nicht weiter zu gefährden.
Die „Ausländerfrage“ galt den Gewerkschaften eben in erster Linie als „Arbeiterfrage“. Auch wenn man eine Einwanderung im eigentlichen Sinn durchaus begrüßte, hatte doch das Verständnis für kulturelle Vielfalt unter diesen Arbeitern engere Grenzen. Es gab jedoch ein recht enges und kooperatives Verhältnis zu Organisationen jüdischer Zuwanderer aus Osteuropa, die dem „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Russland und Polen“ (Bund) nahestanden. In Offenbach trafen sich die Bundisten im Gewerkschaftshaus. Das sozialdemokratische Offenbacher Abendblatt forderte die deutschen Arbeiter auf, als Ausdruck der Solidarität die Feierlichkeiten zum Gründungstag des „Bundes“ zu besuchen.
Gerade unter den italienischen Arbeitern entwickelten die freien Gewerkschaften eine rührige Agitation. Vom Anfang dieses Jahrhunderts an stand Nord- und Mittelitalien selbst auf dem Agitationsfahrplan. Gemeinsam mit dortigen Sozialisten, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Auswandererorganisationen wurden Versammlungen abgehalten.
Doch auch diese deutsch-italienische Gewerkschaftskooperation konnte eine Verstimmung im Verhältnis der Gewerkschaften beider Länder während des Ersten Weltkrieges nicht verhindern. Zwischen 1914 und 1918 schwenkten auch die freien Gewerkschaften in Deutschland auf die Linie einer restriktiven Einwanderungspolitik.
Die Weimarer Republik brachte die Verwirklichung der gewerkschaftlichen Forderung nach dem Beschäftigungsvorrang für Inländer. Und zwar so gründlich, wie er vor dem Krieg selten gefordert worden war. Nun galt er für den gesamten Arbeitsmarkt, nicht nur für öffentliche Bauten.
In veränderter Form ist diese Grundregel in das Arbeitsförderungsgesetz der Bundesrepublik eingegangen. Die arbeitsmarktpolitische Wende in der Weimarer Republik und die Beteiligung der SPD an der Regierungsgewalt hatten allerdings eine Kehrseite: die tendenzielle Entsolidarisierung gegen ausländische Arbeiter und Flüchtlinge.
Zu spüren bekamen dies in der Weimarer Republik nicht zuletzt jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa. Ihnen wurde nun jenes Quantum Solidarität gewährt, das nach Abzug des Tributs übrigblieb, den manche Politiker in der SPD antisemitischen Strömungen glaubten zollen zu sollen.
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