Mimis Händchen

■ „La Bohème“ an der Komischen Oper Berlin

Es gibt schöne Stellen in unserer toten klassischen Musik, die sind ein für allemal verdorben und falsch verbunden. Man hat sie zu oft gehört. Man kann sie nicht mehr hören ohne innerlich störende Nebengeräusche.

Der Anfang von Beethovens Fünfter gehört dazu, seine ganze Sonata „Quasi una fantasia“ oder zum Beispiel Schuberts „Lindenbaum“. Wenn in der Ouvertüre zu Verdis „Traviata“ zum ersten Male das Umtata aufklingt für das todtragische Liebesmotiv: dann wird auch der wohlerzogensten Lady, selbst wenn sie noch nie in ihrem Leben in einer Eckkneipe war, unweigerlich dazu ein ordinärer Schlagertext einfallen. Bei einer anderen schönen Stelle muß sie, ob sie will oder nicht, mit einer entfernten Nebenhirnwindung an tausend nackte Weiber denken auf dem Männerpissoir. Und immer, wenn Rodolfo in „La Bohème“ nach dem eiskalten Händchen seiner Mimi greift, dann verwandelt er sich für ein paar Sekunden in eine erbärmliche Witzblattfigur.

In der Komischen Oper in der Berliner Behrenstraße wird seit Felsensteins Zeiten alles in deutscher Sprache gesungen. Hier hat Mimi wirklich wörtlich „Händchen“ und „Mündchen“ – wodurch erwartungsgemäß der peinliche Augenblick noch stärker schmerzen müßte als sowieso. Aber ausgerechnet hier gibt es keinen. Rodolfo und Mimi knien selbander auf dem Bretterboden. Sie suchen im Halbdunkel nach dem Wohnungsschlüssel. Aber weil wir vorher ganz genau gesehen haben, wie sie ihn absichtlich fallen ließ und wie er ihn fand und in die Hosentasche steckte, wissen wir: in Wahrheit suchen und tasten sie nicht nach dem Schlüssel, sondern eine(r) nach dem(r) anderen. Sie trauen sich nicht so recht. Und wenn er dann doch endlich Mut und ihre Hand faßt und lossingt, stimmt wieder jeder Ton: das zitternde Pathos im Parlando, der aufgeregte Aufschwung der Melodie und die groß ausbrechende Emotion. Natürlich muß ihre Hand eiskalt sein, schließlich ist das Mädel ziemlich aus dem Häuschen.

Gewiß hat er, seinerseits, aus dem nämlichen Grund glühendheiße Schwitzehändchen. Und zugegeben: die Geschichte mit dem Schlüssel ist weder neu noch originell und steht in den Noten so drin. Das Besondere aber an Harry Kupfers Inszenierung von „La Bohème“ ist, daß sie zeigt, was man vergessen hat, weil man es viel zu gut kennt.

In älteren Publikationen der Komischen Oper, die noch aus strammen DDR-Zeiten stammen, werden die Mittel dazu als „realistisch“ bezeichnet. Da wird außerdem allerlei krauses Zeug zusammengesülzt über das „Scheinhafte der antibürgerlichen Opposition“ und die „lebenswerte Zukunft, die das vornehmste Politikum ist in einer Welt, in der das Menschliche zur Nebensache herabgewürdigt worden war“ und so weiter. Alles Humbug.

Harry Kupfer, der ja nie wirklich Schüler von Walter Felsenstein gewesen ist, hat vielmehr in dieser „Bohème“-Inszenierung, die er kurz nach Übernahme der Felsensteinschen Komischen Oper im Jahre 1982 erarbeitet hatte, nichts anderes ausprobiert als eben einige der von Felsenstein entwickelten Prinzipien: Laß lebendige Menschen singen. Denk dran, daß jeder Ton und jede Geste auf der Bühne einen leicht einsichtigen Grund haben müssen. Erzähl die Geschichte, so wie sie auch von der Musik erzählt wird. Nichts weiter und auf gar keinen Fall mehr als das.

Das ist sehr viel. Denn lebendige Menschen im wirklichen Leben pflegen aus einsichtigen Gründen eben nicht zu singen, wenn sie zum Beispiel gerade ihren Schlüssel im Dunkeln suchen. Das gehört zum ganz alltäglichen Opern-Wahnsinn. Und der wird noch einen Kick irrer, wenn man verzichtet auf die üblichen Schnörkel, Schablonen und Archetypen, die diese kaputte Gattung wie ein Korsett zusammenhalten. Wenn etwa, wie hier, die kleine Mimi im ersten Akt mit der erloschenen Kerze in der Hand an die Tür des Ateliers klopft und um Feuer bittet, keineswegs jene bekanntlich todgeweihte, romantisch in weißes Mondlicht getauchte Gliederpuppe ist: jene vom Himmel gefallene Kreuzung des mon ami pierrot bzw. Pierrot lunaire mit dem Pariser süßen Mädel. Ganz im Gegenteil drückt sie sich, wie man von Anfang an sieht, schon länger draußen im Treppenhaus herum und lauert darauf, daß der Maler endlich allein ist, damit sie bei ihm anklopfen und ihn ein bißchen anmachen kann. Diese Mimi könnte glatt aus dem Marienhof kommen. Sie ist das junge Ding von nebenan. Sie erleidet kein Opernschicksal. Sie macht sich ihr dummes Menschenschicksal selbst. Und um so mehr geht das an's Herz, wenn sie am Ende sterben muß.

Die Dächer von Paris fliegen bei jedem Akt neu von oben herab und formieren sich zu einer Kulisse, in der es so gut und derart genau kitscht, daß alle schönen Stellen wieder wahr werden. Harry Kupfer hat in dieser Inszenierung damals jedes Detail gefeilt und sich keine überflüssigen Verzierungen gestattet. Alle Sänger bewegen sich echt, sie singen gut und mit einer Intensität, als würden sie ihre Partie soeben erfinden. Das Orchester, an diesem Abend unter Leitung einer jungen, forschen Dirigentin (Simone Young) spielt wie frisch renoviert: scharf, klar, aufbrausend, jeder Ton so direkt gerichtet, als spielte man dieses Stück in diesem Hause zum allerersten Male.

Tatsächlich war es die 203. Repertoire-Vorstellung von Puccinis „La Bohème“ an der Komischen Oper. In der laufenden Spielzeit gibt es noch die 205. bis 208. Aufführung zu besichtigen. Es ist das Beste, was die Opernstadt Berlin derzeit zu bieten hat. Eleonore Büning