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"Raus aus der Geschichte, rein ins Vergnügen"

■ betr.: "Den Ballast hinter sich lassen" von Sonja Margolina, taz vom 26.3.93

betr.: „Den Ballast hinter sich lassen“ von Sonja Margolina,

taz vom 26.3.93

Offensichtlich reicht die Umstrittenheit bisheriger Schriften einer Person in der taz aus, um ihr fast eine Seite für konstruierte, jegliche Komplexität leugnende und unbelegte Gedankengänge zur Verfügung zu stellen. „Die Buße (die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurde, J.B.), wie bekannt, hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst.“ Die Politik der Nazis, getragen von breiten Bevölkerungskreisen in Deutschland also nicht – aha.

„Die Einmaligkeit von Auschwitz wird zum politisch-ideologischen Instrument, heutige Politik als Buße für die Vergangenheit zu gestalten und eine negative Selbstidentifizierung ins gesellschaftliche Bewußtsein einzupflanzen.“ Welche Personen, welche politischen Kräfte, Gruppen oder Institutionen gestalten Politik als Buße und pflanzen ein? Ich möchte es wirklich gerne wissen, wer gemeint ist! Willy Brandt mit seinem Kniefall in Warschau? Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 8. Mai 1985? Helmut Kohl, der beim Besuch der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem 1984 Überlebenden der Judenvernichtung bedeutete, sie brauchten ihn über deutsche Geschichte nicht zu belehren, kann Frau Margolina ja wohl nicht im Sinn gehabt haben.

„Die Frage, warum das Verbrechen an den Juden solche institutionellen Formen angenommen hat, das an Zigeunern, Bauern oder anderen sozialen Gruppen aber nicht, hängt mit den Nürnberger Prozessen, der Entnazifizierung, den unzähligen schriftlichen Dokumenten, der Filmpropaganda und Erziehung und endlich, der Gründung Israels zusammen, deren Legitimation zum Teil auf der ,Endlösung‘ beruht.“ Ist diese Aussage tatsächlich so gemeint, wie sie in dem Artikel stand? Ist nicht statt des Verbrechens an den Juden die Erinnerung an das Verbrechen an den Juden gemeint?

„Übrigens auch sowjetische Juden hatten ihre Gründe, ihre Baij- Jar-Identität zu leugnen. Sie bekamen dafür keine Entschädigung, sondern den Stempel der Zionisten. Jetzt hat sich ihr Gedächtnis gebessert, daß sie auch daran zu erinnern pflegen, was es nicht gab.“ Welcher Teil der Verbrechen an den Juden entspringt nach Meinung von Frau Margolina denn nun deren Phantasie?

„Zwischen der Unvergänglichkeit der Vergangenheit und dem Mangel an zivilen Kräften besteht ein Zusammenhang. Die Aufarbeitung der Geschichte erscheint als Ersatz für ein souveränes gesellschaftlich-politisches Handeln.“ Ich frage mich, ob Frau Margolina und ich tatsächlich im gleichen Land leben. Glaubt man ihren Worten, dann erscheint die bundesdeutsche Gesellschaft in Handlungsunfähigkeit nachgerade erstarrt ob des Erschreckens über die begangenen Verbrechen.

Der Überschriftenkreator hat offensichtlich genau verstanden, worum es geht: „Den Ballast hinter sich lassen“. Raus aus der Geschichte, rein ins Vergnügen! Immerhin wäre auf dieser Grundlage vielleicht in Zukunft bei den Bewertungen entsprechender Vorgänge nicht mehr vom „Holocaust am deutschen Wald“ und von „Auschwitz in Beirut“ die Rede, und gesellschaftliche Gruppen, die hierzulande gegen Diskriminierung demonstrieren, würden sich bei Demonstrationen nicht mehr den Judenstern anheften... Jörn Böhme, Frankfurt am Main

Der Historikerstreit erscheint mir im Rückblick nicht so sehr als essentiell politischer Streit denn als Konfrontation wissenschaftlicher Schulen. Ich glaube nicht, daß die sogenannte Einmaligkeitsthese wirklich sein Gegenstand war. Hatte die historisch interessierte Kanzlerschaft im Vorfeld nicht verschiedene Geschichtsprojekte inauguriert, darunter auch solche prestigeträchtiger Art? Daraufhin entwickelte sich dieser Streit, in dem es angeblich um das Selbstverständnis der Bundesrepublik gegangen sein soll, ganz schnell zu einer ziemlichen Schlammschlacht. Von manchem Verkniffenen allerdings wurde die Regression als befreiend empfunden. Die Provokation Noltes jedoch wurde nicht wirklich diskutiert. Es ging um Ämter und Posten, die alte Rivalität zwischen „politischer Geschichte“ und „Gesellschaftsgeschichte“, womöglich um alte Rechnungen persönlicher Art usw.

Wohl kaum jemand hat die Absicht, „nationales Gedächtnis“ als einzige Form des historischen Gedächtnisses zu etablieren. Sehr wohl ist aber die Konkurrenz um das richtige Angedenken an die Opfer der Nazis in der Bundesrepublik seit den ausgehenden 60ern ein wichtiger Bestandteil der politischen Auseinandersetzung. Es gibt, neben völliger Gleichgültigkeit, viele verschiedene Antifaschismen: lipserverice, den phrasenhaften Antifaschismus der Funktionäre, den Liedermacher- und Rockantifaschismus, den militanten Antifaschismus, den christlichen Antifaschismus, das Wissen um die Celansche Leiderfahrung...

Der gemeinsame Auftritt verschiedener Spielarten auf derselben Veranstaltung ergibt tragikkomische Situationen, in denen niemand lacht. Daß die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zu einem Ersatz für politisches Handeln wird, daß „die Deutschen“ unter einem unglücklichen Bewußtsein litten, ja sogar, daß ein Mangel an zivilen Kräften bestünde, kann ich nicht finden.

Ich glaube, daß die jetzige Krise notwendig und unausweichlich ist. Die provisorische Verfassung der Bundesrepublik hat ja eine klare Zielperspektive gehabt, ein telos. Jetzt, da es verwirklicht ist, macht sich die Depression breit. Wir sind in unserer Entwicklung an einem Punkt angelangt, an dem die dunklen Stellen unserer eigenen Geschichte ins Bewußtsein rücken wollen.

Diese steht unter dem Trauma der Hitler-Herrschaft. Die Nazis wurden dämonisiert, der große Hasser vom Obersalzberg zum schlechthin Bösen erklärt, der esoterische Spinner Rudolf Hess (zuletzt sah er sich politisch eher bei den Grünen) als Mumie des dritten Reiches in Spandau festgesetzt, eine wahrhaft gespenstische Gegenwart des Stellvertreter-Vergangenen. Das Vernichtungswerk aber wurde von Männern wie Rudolf Höss und Jürgen Stroop ins Werk gesetzt, Produkte einer verkorksten katholischen Erziehung. In ihrem Schatten konnte auch die Emanzipation der nachfolgenden Generation nicht recht glücken.

Daß die deutsche Vergangenheit nicht vergehen will, verdankt sich also nicht so sehr individuellen Intentionen, es ist einfach so. Der deutsche Nationalcharakter, dessen fleischgewordene Physiognomie der tumb grienende Hans-Joachim ist, hat, wenn er in Reinform auftritt, einen leichten Hau, tickt schnell durch, leidet leicht unter artureskem Nebenbuhler- und Gockeltum.

Die deutsche Politik wiederum steht unter dem Grundwiderspruch einer doppelten Inversion. Die kleine Minderheit der versprengten radikalen Linken und ihr Zentrum findet ihr Bewußtsein in der Identifizierung mit den Opfern der deutschen Vernichtungslager und ihren Nachfahren, zu deren Schutz sie auch Flächenbombardements befürwortet, im extremsten Fall selbst auf Deutschland. Sie meint die Dame wahrscheinlich auch, wenn sie von dem unglücklichen Bewußtsein der Deutschen spricht: Ob der zynische Hinweis eines ihrer Vertreter auf Sieg und Niederlage als Erfolgskriterium des Terrors nicht noch einer obskuren Endsieglogik verhaftet sei?

Ihnen gegenüber stehen als Vertreter der großen Mehrheit (ehem.) Würdenträger und Vertreter der Mandarinenkaste, denen die Machtmittel des Staates zur Verfügung stehen. Deren umgekehrte Introversion findet ihre Identität in einem Koordinatenkreuz von Bündnistreue, Patriotismus und formaler Rechtsstaatlichkeit. Ihre Frauen diskutieren in der Kinder- und Mädchenstube die Einführung eines unbezahlten Arbeitsdienstes unter dem Begriff der sozialen Demokratie. Die staatstragende Leserschaft ihres Zentralorgans glaubt mehrheitlich an einen Kantschen Universalismus der Rechte und befürwortet die Sonderbehandlung von AsylantInnen und ImmigrantInnen.

Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis der Industriestandort mit dem Slogan für sich wirbt: „Deutschland – das Land, in das man flüchtet!“ Getrude Unruh-Hämmerle

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