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„Der Mensch lebt von der Hoffnung“

■ GUS-Landwirte gehen bei niedersächsischen Bauern in die Schule

Die Bauern in Tjumen haben es nicht leicht. Der russische Regierungsbezirk liegt rund 5 000 Kilometer östlich der deutschen Landesgrenze in Westsibirien. Nur im Süden von Tjumen, das so groß wie Frankreich und die Beneluxstaaten zusammen ist, lohnt die Landwirtschaft. Dort fällt der erste Schnee Mitte Oktober.

Niedersachsen will den sibirischen Bauern beim Aufbruch in eine neue Zeit helfen. Zwanzig private Landwirte und Mitglieder staatlicher Betriebe aus Tjumen gehen deshalb seit Februar bei ihren kapitalistischen Kollegen in die Schule. Die vom Land Niedersachsen geförderten Praktika beurteilen sie kurz vor ihrer Heimreise überwiegend positiv.

„Ich will auf einigen Parzellen den Kartoffelanbau in Dämmen probieren“, sagt Juri Kriworutschkin. Auf seinem Gastbauernhof bei Hannover hat der 33jährige die ihm unbekannte Anbauweise kennengelernt. Seine eher bescheidenen Deutschkenntnisse waren für die Verständigung mit seinem Gastgeber kein Hindernis: „Ein Bauer versteht den anderen ganz gut.“ Daß deutsche Methoden nicht immer auf Tjumen übertragbar sind, erklärt Kriworutschkin anhand der Kartoffellagerung. Deutsche Kartoffellager böten keinen Schutz vor den harten Wintern, die Früchte würden verkommen.

Das größte Manko der Landwirte in Tjumen ist nach einhelliger Meinung die „Technika“. Landmaschinen aller Art fehlen. Die vorhandenen sind häufig defekt oder unzureichend. Keine gemeinsame Meinung haben die Tjumener dagegen über die westliche Wirtschaftsform. Viktor, der in einer Werkstatt für landwirtschaftliche Maschinen arbeitet, ist „sehr erschreckt darüber, daß man bei uns die Struktur der Landwirtschaft gedankenlos zerschlagen hat.“ Er betont: „Auch die kollektive Landwirtschaft hat Vorteile“. Der 36 Jahre alte Renat Sattarow spricht sich dagegen für Privateigentum an Grund und Boden aus und wirft dem Volksdeputiertenkongreß vor, den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten zu behindern.

Den Machtkampf in Moskau zwischen dem reformfreudigen Präsidenten Boris Jelzin und dem konservativen Volksdeputiertenkongreß haben die Tjumener auch in Deutschland mit Sorge verfolgt. Das Urteil des deutschstämmigen Karl Brandt über die Politik in der fernen Heimat scheint die Gefühlslage aller zu treffen: „Der Mensch lebt von der Hoffnung.“ Hans-Edzard Busemann/dpa

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