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Entenhausen als Utopie

■ Ein Roman über verspätete 68er auf dem Lande

Den Umschlag ziert ein genervtes Portrait der berühmtesten Ente der westlichen Hemisphäre: Donald Duck. Und über diesem Charakterkopf leuchten – comicsprachenbewegt – jene Worte, die dem Roman von Rolf Silber seinen Titel geben: „Helter Skelter“ – ein Song auf dem legendären „Weißen Album“ der Beatles aus dem Jahre 1968 – bedeutet soviel wie Hals über Kopf, holterdiepolter oder drunter und drüber. Dieser Song und mit ihm andere Titel wie „Revolution No. 1“, „Sexy Sadie“ und „Why don't we do it in the road?“ konnten als Programm jener Generation gelten, die Ende der sechziger Jahre Beschränkungen und Beschränktheiten nicht mehr akzeptieren wollte: Wir wollen alles – und das sofort! Diese Botschaft der Musik wurde weltweit vernommen. Mancher hörte freilich noch anderes in den verfremdeten Klängen: der durchgeknallte Charles Manson und seine Sekte in Kalifornien glaubten, dem Weißen Album persönliche Anweisungen zu Ritualmorden entnehmen zu können; sie schmierten ein blutiges „Helter Skelter“ an die Wohnungswände ihrer Opfer. Es ging einiges drunter und drüber in jener Zeit. So auch, als die Botschaft der Revolte – mit provinzieller Zeitverschiebung – 1970 ein hessisches Dorf erreichte, während die Beatles längst beschlossen hatten, sich zu trennen.

Da ist Ronald, alias Donald Jakobson, 17 Jahre jung, Gymnasiast, angehender Comic-Zeichner, politisierter Hippie und engagierter Leser von Wilhelm Reichs „Die Funktion des Orgasmus“. Seine Freunde: der sommersprossige, immer zu einem Joke aufgelegte Charlie, der das Für und Wider einer Karriere als Kleinkrimineller erwägt; Popov, der, wenn er nicht gerade bekifft ist, eine Flasche Apfelwein in sich hineinschüttet; seine schöne, für Ronald-Donald unerreichbar erscheinende Schwester Katarina, die wiederum mit Robert liiert ist, der sich mit dringenden Fragen der Weltrevolution beschäftigt und die Schriften des großen Vorsitzenden studiert. Ort der Handlung ist ein kleines, verschlafenes Nest zwischen Rübenfeldern und Kartoffeläckern. Aber immerhin ein ordentliches Dorf mit vielen neuen, weiß verputzten Ein- und Zweifamilienhäusern, verziert mit Kupfer und Schmiedeeisen, die einen ewigen Wettbewerb „Wer hat den schönsten Kleingarten“ austragen. Mitten im Dorf – wie es sich gehört – der Stolz der Gemeinde, die neu erbaute Kirche mit dem Charme eines Getreidesilos: alles aus Beton. Aus Beton auch die Köpfe der Väter, an denen sich im Sommer 1970 die Söhne die ihren reiben. Vor allem, wenn es um die entscheidende Frage der Haarlänge geht, die jeden Haussegen ebenso ins Wanken bringt wie schlechte Schulzeugnisse oder überschrittene nächtliche Uhrzeiten. Vollends aus dem Häuschen geraten Eltern jedoch, wenn man sie mit Fragen nach ihrem Verhalten während der NS-Zeit konfrontiert.

Der Roman beschreibt über weite Strecken locker, witzig und selbstironisch das Lebensgefühl einer sich vom Elternhaus lösenden Jugend, die bislang selbstverständliche Herrschaftsansprüche der Väter in Frage stellt. Er schildert mit Empathie Jugendliche, die sich ihre eigene Welt phantasieren, manchmal „so nahe am Himmel und so weit vom Boden entfernt“.

Die Erfahrungen, die Ronald- Donald und seine Freunde im Sommer 1970 machen, resultieren aus gesellschaftlichem „Probehandeln“: Kraftproben und Auseinandersetzungen in Elternhaus und Schule, Erwachen heftiger Frühlingsgefühle, Sinnfragen: Wer bin ich? Was kann ich wollen? Zugleich sind es Erfahrungen in einer spezifischen historischen Situation der Bundesrepublik. Die Studentenbewegung macht sich daran, die intellektuelle Selbstgenügsamkeit zu erschüttern. Worauf kommt es an? Bewußtseinserweiterung oder Revolutionierung der Gesellschaft? Beatles oder Stones? Haschparties oder die richtige politische Linie? Lenin, Wilhelm Reich oder Mao Tse-tung? Der Held von Silbers Roman hat Mühe, bei all diesen Fragen den Überblick zu behalten. Die „Vereinsmoral“ der Marxisten-Leninisten erscheint ihm wie die der Offenbacher Kickers: „unberechenbar im Spielverlauf, stark im Finish.“ Zwar versucht er, dem geliehenen Mao-Tse-tung-Band seine Wahrheiten zu entlocken, faszinierender aber bleibt letztlich doch „Donald als Schulpolizist“: „Mein Utopia lag in Entenhausen. Mein großer Vorsitzender trug einen Matrosenanzug. Zudem betrachtete ich die Lektüre von Micky Maus als Teil meiner Ausbildung. Meine Devise hieß nicht ,Von Lenin lernen!‘, ich studierte die Tuscheschwünge von Walt Disney. Mir war zwar klar, daß er und sein Imperium der Kinderträume Teil der amerikanischen Offensive im Kulturweltkrieg war, aber ich träumte davon, eines Tages mit dem Zeichenstift in der Hand die bildnerische Synthese zwischen Donald Duck und Bertolt Brecht hinzubekommen. ,Mutter Courage und ihre Entchen‘ oder ,Fragen eines lesenden Erpels‘.“

Rolf Silber gelingt es in seinem ersten Roman, ein heute verschwundenes Lebensgefühl auferstehen zu lassen. Er trifft den jugendlichen Slang der Mittelschichtkinder, an den sich beim Lesen manch ausgebrannter Mittvierziger wehmütig erinnern wird. Aber zugleich beschleicht ihn die traurige Gewißheit, daß hier eine Phase unwiderruflich an ihr Ende gekommen ist.

Was bleibt, ist ein leicht schaler Nachgeschmack. Konnte ein Zwanzigjähriger 1970 in dem Gefühl leben, mit der richtigen Strategie und Taktik sei alles machbar, man müsse es nur tun, so ertappt sich derselbe heutzutage bei der Frage, ob nicht doch ein neuer Anstrich des Gartenzaunes lohnen würde. Gewiß, die Zeiten der großen Utopien sind vorbei. Wissen diejenigen, denen sie abhanden gekommen sind, noch von ihrem Verlust? In Silbers Buch scheint immerhin etwas von der verlorenen Unbeschwertheit wieder auf. Irene Schülert

Rolf Silber: „Helter Skelter“. Roman. Eichborn-Verlag 1993, 312 Seiten, 36 DM

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