: Schlechtes Gewissen am Morgen danach
■ “Sibirien“ — ein 2-Personen Stück vom Schnürschuhtheater über das trostlose Alter hatte Premiere
Am Morgen nach Premiere: Aufwachen mit einem schlechten Gewissen. Als hätte ich Ohren gehabt ohne zu hören, Augen gehabt ohne zu sehen, einen wirklichen alten Mann klagen und anklagen lassen, ohne von seinem traurigen Schicksal berührt zu werden. Also mit diesen Nachwehen doch noch ein gutes Stück? — „Sibirien“ von Felix Mitterer, Regie Markus Andrae, Schnürschuhtheater.
Ein alter Mann ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und findet sich, von seiner Sohnesfamilie abgeschoben, in einem kalten Altersheim wieder. In Dialogen mit der abwesenden Schwiegertochter, dem abwesenden Sohn beschreibt er seinen Alltag, in dem er Schritt für Schritt entmündigt und zum Pflegefall wird, und hat dabei noch die absurde Hoffnung, wieder in den „Familienverband“ aufgenommen zu werden. Mit alterskindlicher Stimme spricht der 44-jährige Schauspieler Reinhard Lippelt die endlosen und immer vorhersehbaren Sätze des Greises und humpelt dabei mal mit Krücken über die dunkle Bühne, mal sitzt er auf einem zynisch hohen Krankenbett.
Die Oberschwester, sagt er, will an sein Sparbuch ran, ebenso die Kinder. Der Enkel hört scheußliche Rockmusik und ob sich die Schwiegertochter wohl um den Hund kümmert? Es sind die einfachen und banalen Gedanken und Probleme eines einfachen und einsamen Abgeschobenen.
Schauspieler Lippelt kann durchaus glaubwürdig einen doppelt so alten Menschen darstellen — wenn „Sibirien“ so kalt läßt, dann liegt das an der Oberflächlichkeit des Textes, der immer genau das meint, was er sagt, der nichts weiter bietet, als eine gedoppelte Wirklichkeit, die keine Lücken zum identifizierenden Hineinschlüpfen bildet.
Daß der gesprochene Text nur diese eine Ebene hat, ist allerdings ein bewußt eingesetztes dramaturgisches Element. Das Innere des alten Mannes, seine verzweifelten und auch diffusen Gefühle werden von einem seltsamen tierhaften Wesen gespielt, getanzt — „ausgedrückt“. Gertraud Schlote ist — mit beindruckender eigener Körperbeherschung — der „Körper“ des alten Mannes. Sie umschwirrt ihn, berührt ihn, streichelt und stößt ihn, will eine Verbindung herstellen und muß doch selbst immer mehr wie ein gefangenes Tier zwischen den Gitterstäben des Bettes hin- und herwiegen. Je länger man dem „Körper“ zuschaut, desto unterträglicher werden seine geschmeidig schönen aber selbstverliebt autistischen Bewegungen. — Was in der Theorie gut klingt — die sichtbar gemachte Trennung von Körper und „Seele“ — wird auf der Bühne zum schnell abgenutzten Tick, trotz der melancholisch interpretierenden Musik von Andre' Szigethy, der live am Keyboard saß.
Der alte Mann, für den das Altersheim schlimmer war als der Ort seiner Kriegsgefangenschaft, als „Sibirien“, er stirbt am Ende des Stückes und erlöst damit auch die ZuschauerInnen. Am Morgen danach dann bleibt dieses schale schlechte Gewissen. Cornelia Kurth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen