: Zwischen Schüttelfrost und Wahlfieber
■ In den Provinzen hält sich die Begeisterung für Boris Jelzins Politik in Grenzen
„Chasbulatow, der Jugend jagst du keine Angst ein“, hieß es auf einem Transparent. Die Jugend hatte sich am Dienstag abend auf dem Roten Platz versammelt – neben der Basilikus Kathedrale und der Richtstätte Iwans des Schrecklichen. Ein Rockkonzert stand auf dem Programm, natürlich zur Unterstützung Jelzins. Den Jugendlichen ging es nicht direkt um Politik, sie knutschten und liebten sich unter den Augen Hunderter Polizisten. Ein klarer Beweis für den Fortschritt der Reformen. Denn noch zu Sowjetzeiten galt Körperkontakt in der Öffentlichkeit – es sei denn beim Rempeln im Kaufhaus oder in der U-Bahn – als absolutes Tabu.
Seit zwei Wochen beherrscht das Referendum die Berichte aller Medien. Die Kontrahenten lassen keine Möglichkeit ungenutzt, um ihre Kohorten hinter sich zu versammeln. Mit Wahlgeschenken und -versprechen ist man dabei zwischen Wladiwostok und Smolensk nicht kleinlich. Jelzin empfing und besuchte von Rockmusikern bis zu Kriegsveteranen jede irgendwie relevante Gruppe. Den Studenten erhöhte er die Stipendien, den Rentnern, die nicht unbedingt zu seinen Parteigängern zählen, sicherte er mehr sozialen Schutz zu. Alleinstehende Mütter und kinderreiche Familien wurden ebenfalls bedacht.
Je hitziger die Politiker um ihre Gunst wetteifern, desto gelassener sieht es die Bevölkerung. Zwar bildeten sich in den meisten größeren Provinzstädten gleich nach dem gescheiterten Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin Unterstützungskomitees. Doch nicht überall wird der Präsident am Sonntag auf volle Zustimmung stoßen. Im sibirischen Krasnojarsk waren es nur 35 Prozent, die sich auf Jelzins Seite stellten. Chasbulatow landete bei noch bescheideneren 27 Prozent. In Rostow am Don hat der Präsident die größte Stütze in der Jugend, der Intelligenz, den Beschäftigten in den Sicherheitsorganen und unter den Kosaken – was in dieser Grenzregion außerordentlich wichtig ist.
Angst, wieder unter die Knute Moskaus zu geraten
Die Gegner rekrutieren ihre Klientel aus den weniger qualifizierten Arbeitern der großen staatlichen Betriebe, vor allem des militärisch-industriellen Komplexes. Dazu gehört auch ein Teil der technischen Intelligenz, vor allem Ingenieure und schlecht bezahlte Akademiker sowie Pensionäre. In Nischnij Nowgorod, das als erste Stadt Rußlands ein umfassendes Privatisierungsprogramm vollzog, gaben 53 Prozent an, für Jelzin zu stimmen, immerhin 44 unterstützten seine Wirtschaftspolitik, obwohl über die Hälfte der Befragten kein Vertrauen in die Privatisierungspolitik besitzt. Das eindeutigste Urteil erntete der Volksdeputiertenkongreß. Für Neuwahlen plädierten 62 Prozent. 66 wären nötig, um die Auflagen des Verfassungsgerichtes zu erfüllen.
Die Bevölkerung in ländlichen Gebieten ist wie überall auf der Welt konservativer. Erschwerend kommt in Rußland hinzu, daß die mächtigen Vorsitzenden der landwirtschaftlichen Betriebe ihren Untertanen vorschreiben, was sie zu wählen haben. In den Republiken der Föderation lassen sich nur schwer Konturen erkennen. Generell mag dort Gültigkeit haben, was der Politiker Garatuew für die Republik Udmurtien äußerte: „Die Politik Jelzins sagt uns nicht sehr zu, aber die Politik derjenigen, die an seine Stelle treten könnten, gefällt uns noch weniger.“ Treibendes Motiv dort, für Jelzin zu votieren, ist die bedrohliche Aussicht, bei einem Machtwechsel wieder unter die zentralistische Knute Moskaus zu geraten.
Je deutlicher sich die Niederlage der Regierungsgegner abzeichnet, desto schärfer verlagert sie ihr propagandistisches Schwergewicht auf Themen, die, wie sie hofft, bei der Bevölkerung immer ein offenes Ohr finden: Korruption und Kriminalität in Regierungskreisen. Besonders hervor tat sich damit Vizepräsident Alexander Ruzkoi. In einer direkt vom Fernsehen übertragenen Parlamentssitzung bezichtigte Ruzkoi anderthalb Stunden lang die Regierung illegaler Geschäfte mit Gold, Öl und Buntmetallen. Ein unwesentliches Detail: Es war Jelzin, der Ruzkoi mit dem Vorsitz in der Antikorruptionskommission beauftragt hatte. Nicht zu Unrecht fragt das Boulevardblatt Moskowskij Komsomolez, warum der streitbare Vizepräsident die Ergebnisse nicht vorher an die zuständigen Stellen weitergeleitet hätte. Wäre er dort auf taube Ohren gestoßen, hätte es immer noch die Presse gegeben.
Vizepremier Schachrai bedauerte, daß die „Enthüllungen“ die laufenden Untersuchungen störten. Ruzkoi kämpft mit aller Kraft um sein politisches Überleben. Ein Sieg Jelzins müßte ihn eigentlich veranlassen, seinen Abschied zu nehmen. Davon möchte er aber nichts wissen. Im Gegenteil, er baut sich zum alternativen Präsidentschaftskandidaten auf. So einfach werden Rußlands Wähler ihm das goldene Kalb nicht präsentieren. Denn auch über den Vizepräsidenten und seine Entourage hört man nicht nur Bubenstreiche.
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