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Auf dem Weg zum neuen GAU

Sieben Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl gewinnen die Befürworter der Atomkraft wieder Oberwasser  ■ Von Hermann-Joseph Tenhagen und Ulrich Heyden

Moskau/Berlin (taz) – Mehr als 60 Opfer haben am Wochenende in Charkow einen Hungerstreik begonnen. Sie fordern vom ukrainischen Staat eine Verfassungsgarantie für soziale und finanzielle Unterstützung. In Kiew selbst wird heute wie jedes Jahr seit 1986 der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gedacht. Die nationaldemokratische Partei Ruch und einige kleinere politische Organisationen haben zu einer Kundgebung vor der Sophienkathedrale aufgerufen. Greanpeace Ucraine will vor dem Gebäude des Obersten Sowjet demonstrieren.

Aber der Protest hat nachgelassen. Zu der Kundgebung werden nur ein paar tausend Menschen erwartet. Sieben Jahre nach der Katastrophe läuft das AKW von Tschernobyl immer noch. Trotz regelmäßiger Unfälle, eines krümelnden Sarkophags um den Unglücksreaktor, westlicher Ministerbesuche und einer Schließungsandrohung des ukrainischen Parlamentes gewinnen die Befürworter der weiteren Atomkraftnutzung in der ehemaligen Sowjetrepublik wieder Oberwasser. Denn: Strom ist das einzige Produkt, das die Ukraine heute ins Ausland absetzen kann, damit die wichtigste Devisenquelle des Landes.

Gerade auch in Tschernobyl. „90 Prozent der Energie, die wir hier erzeugen, wird exportiert“, erklärte der Pressesprecher des Atomkraftwerks, Sergej Akulinin, in Berlin. Die Strategie der staatlichen „Kiewenergo“ ist im Westen gut bekannt. Auch der Sprecher der Wiener Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Hans- Friedrich Meyer, weiß: „Die Ukraine produziert sehr viel mehr Strom, als sie braucht.“

Akulinin sagt, der Wert der Stromexporte von Tschernobyl belaufe sich auf 300 Millionen US- Dollar im Jahr. Der Westen habe bisher aber lediglich 16 Millionen US-Dollar an Hilfe für die sofortige Schließung der Kraftwerks angeboten – ein schlechtes Geschäft. Ein gutes Viertel des ukrainischen Stroms kommt aus Atomkraftwerken. Das älteste ist der Block Tschernobyl-1, der 1977 in Betrieb ging. Die älteren Kohlekraftwerke hat der Staat verlottern lassen. Dabei verfügt die Ukraine über 60 Prozent der erschlossenen Anthrazitkohlevorkommen der GUS, bräuchte für sich selbst die Atomkraft also gar nicht.

Hält der Westen sich bei Hilfen für die Abschaltung zurück, so ist er bei der Renaissance der Atomkraft vorne dabei. Exportverträge unter anderem mit der Republik Österreich motivierten die Ukraine trotz mehrerer Unfälle, auch die Blocks 1 und 3 in Tschernobyl wieder in Betrieb zu nehmen.

Wichtigster Hoffnungsschimmer der Atomkraftgegner und besorgter Regierungen im Westen ist immer noch ein Beschluß des ukrainischen Parlaments vom 29.Oktober 1991. Nachdem bei einem Brand im Oktober 1991 auch der zweite Block des Atomkraftwerks Tschernobyl zerstört worden war, hatte die Kammer entschieden, die beiden noch intakten Reaktoren 1 und 3 Ende 1993 stillzulegen. Außerdem sollten die halbfertigen 1.000-Megawatt-Reaktoren des Stendal-Typs nicht fertiggestellt werden. Die Ukraine betriebe danach im nächsten Jahr nur noch zwölf Atommeiler – keinen mehr vom Typ Tschernobyl.

„Wenn die Weisung kommt, würden wir's auch machen“, sagt Akulinin, „aber es würde der Ukraine schaden.“ Akulinin ist stellvertretender Gewerkschaftleiter und klagt beredt über die Eile, mit der sein AKW abgeschaltet werden soll. „In jedem zivilisierten Land würde eine solche Entscheidung fünf Jahre vorher angekündigt, nur bei uns nicht.“ Die Kraftwerksleitung setzt auf eine Politik der kleinen Schritte. Sie will ein Moratorium der Schließung erreichen. Tschernobyl-Reaktoren sollen immer erst dann stillgelegt werden dürfen, wenn drei noch in Bau befindliche Atomkraftwerke des Stendaltyps in der Ukraine in Betrieb gehen.

Das Parlaments-Verbot des Weiterbaus müßte dafür natürlich aufgehoben werden. Seit einiger Zeit mehren sich die Stimmen führender ukrainischer Politiker, die die Beschlüsse von 1991 kippen wollen. Die Kraftwerksblöcke in Rowno, Chmelnitskij und Saparoschje befinden sich im fortgeschrittenen Baustadium. Nach Meinung von Experten braucht man nicht mehr als ein halbes Jahr, um den sechsten Block von Saparoschje zu aktivieren. 18 Monate sind nötig, um den zweiten Block von Chmelnitskij und den vierten Block von Rowno in Betrieb zu nehmen.

Bemerkenswert auch ist die veränderte Haltung der Tschernobyl- Kommission des Obersten Sowjet. Sie gehörte bisher zu den Kritikern der Atomenergie. Heute ist auch sie für die Aufhebung des Moratoriums. Wohl kein Zufall, daß zur selben Zeit auch die Position der Ukraine in bezug auf die strategischen Atomwaffen überdacht wird. Maßgebliche Politiker in Kiew wollen nicht darauf verzichten und die im START I Vertrag festgelegte Vernichtung zumindest hinauszögern.

Die Befürworter der Atomenergie können dennoch mit der Unterstützung des Westens rechnen. Zum Beispiel hat die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die in Kiew auf Kosten des Töpfer-Ministeriums ein Beratungsbüro eröffnen soll, für Reaktoren des Stendaltyps eine Nachrüstungs-Sicherheitsanalyse angefertigt.

Auch Akulinin glaubt, daß seine Reaktoren an Sicherheit gewonnen haben. Schließlich habe man sich massiv darum bemüht. „Die Schnellabschaltung dauert heute nur noch zwei statt zwölf Sekunden.“ Auch die Sicherheitsphilosophie habe sich geändert: „Früher hat man die Arbeit verloren, wenn man auf den Havarieknopf gedrückt hat – heute drückt man, wenn man unsicher ist, auf den Knopf.“

Sergei Prokhodow, ehemals Schichtleiter in einem der Blocks, hat Akulinin nach Berlin begleitet, um gemeinsam mit dem Atom- Sprecher um Hilfe für erkrankte Kinder zu werben. 5.000 Kinder leben in der Retortenstadt Slawutich, kaum 40 Kilometer vom Reaktor und in der Eile nach der Reaktorkatastrophe in einem besonders belasteten Landstrich errichtet. Ihre Eltern arbeiten zumeist in Tschernobyl. Als Akulinin aber den neuen Sicherheitsstandard lobt, widerspricht der sonst schweigsame, hagere Prokhodow vehement. Das Atomkraftwerk müsse abgeschaltet werden, „was immer die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen auch sein mögen“.

Prokhodow hat seinen Beruf als Werksphysiker aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Wer von den beiden Botschaftern der Folgen von Tschernobyl schließlich recht bekommt, soll eine Regierungskommission entscheiden. Ihr Urteil erwartet Akulinin für den 1. Mai. Und er ist sicher: Weder die ökonomische Situation der Ukraine noch die soziale Situation in der Region Tschernobyl lasse eine Schließung des Katastrophenreaktors zu.

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