piwik no script img

„Das einzige, was wir tun können“

„Merhamed“ heißt Barmherzigkeit / Bosnier helfen Bosniern: Ein von in Deutschland lebenden Bosniern gegründeter Verein hat über 1.000 Tonnen Hilfsgüter ins Kriegsgebiet geschickt  ■ Aus Köln Cornelia Gürtler

Der Krieg hat aus den Söhnen und Töchtern jugoslawischer Gastarbeiter bosnische Deutsche oder deutsche Bosnier gemacht. Während Freunde und Kollegen studieren, jobben und feiern, organisieren sie Transporte von Nahrungsmitteln, Kleidern und medizinischem Bedarf. Über 1.000 Tonnen hat der von in Deutschland lebenden Bosniern gegründete Verein „Merhamed“ per Lkw von Bonn nach Split und von da aus auf Schleichwegen zu den Menschen aus „ethnisch gesäuberten Gebieten“ gefahren. „Merhamed Bonn e.V.“ ist der erste Ableger der vor 60 Jahren gegründeten bosnischen Caritas: „Merhamed“ heißt Barmherzigkeit. Die humanitäre Organisation war lange Zeit von den Kommunisten verboten und wurde vor zwei Jahren in Sarajevo neu gegründet.

Organisieren, disponieren: Zwölfstundentag für Bosnien

„Merhamed – Bonn – Coković?“ Zwölfstundentag mit drei Telefonen und Fax. Irfan, der 24 Jahre junge Geschäftsführer und Gründer der bosnischen Spenden-Organisation in Bonn, rattert sein Sprüchlein runter, unterbricht, und nimmt den nächsten Hörer. Endlich steht die Verbindung nach Split auf der zweiten Leitung: Ziel des nächsten Vierzigtonners, beladen mit Nudeln, Keksen, Müsli, Windeln, Monatsbinden, Schuhen und Kleidern aus Aachen, alles liebevoll verpackt. Anke wartet im Merhamed-Büro auf die Frachtpapiere für den slowenischen Fahrer. Die Medizinstudentin hat die Ladung mit befreundeten Krankenschwestern organisiert. Den Schulamtsleiter haben sie angesprochen, und die Schulkindermütter von 80 Aachener Schulen reagierten. Sammellager für die Pakete: eine Aachener Kaserne. Ankes Semesterferienproblem: wie viele Komilitonen kann sie zum Lkw-Beladen auftreiben? Der Fachschaftsrat unterstützt die Aktion nicht: humanitäre Hilfe ohne politische Zielsetzung sei unpolitisch, hätten sie gesagt. „Die Fragen, die man sich beim Paketpacken stellen muß, was brauchen die Leute zum Überleben, was ist Schnickschnack, brauchen sie Verbandszeug oder Heftpflaster, das ist doch schon politisch“, sagt Anke.

Im kroatischen Split nimmt seit einigen Monaten eine Außenstelle der bosnischen Regierung die Verteilung der Hilfsgüter in die Hand. Damit soll sichergestellt werden, daß die Spenden an diejenigen ausgegeben werden, die es am nötigsten haben, und nicht an Kriegsprofiteure, die manches in Kroatien zu Geld machen. Irfan Coković telefoniert täglich mit Split, um die Ankunftszeit und den Zielort der Güter abzusprechen. 600 Flüchtlinge sind in Tuzla angekommen. Die Pakete aus Aachen werden also in Split auf drei kleinere Lkws verladen, die auf den Schleich- und Schotterwegen nach Tuzla besser zurechtkommen als ein Vierzigtonner. In Friedenszeiten braucht man sechs Stunden von Split nach Tuzla, im Krieg zwei Tage.

Irfans Terminplan von übermorgen ist jetzt schon dicht: bosnische Flüchtlinge aus dem Asylbewerberheim der ehemaligen belgischen Kaserne am Kölner Militärring aufsammeln und zum Beladen zur Merhamed-Lagerhalle bringen. Die Flüchtlinge sind dankbar für diese Arbeit. Irfan: „Es ist das einzige, was sie für Bosnien tun können. Sie fühlen sich schuldig gegenüber denen, die sie zurücklassen mußten, eingeschlossen von den Tschetniks.“ Später wird er den Vierzigtonner durch die Bonner Innenstadt lotsen: zu den 150 Paketen einer Kölner Versicherungsbelegschaft. Dann fünf Paletten Zucker in der Zuckerfabrik einsammeln. Auch die PR-Abteilung der Mehlmühle hat positiv reagiert. Irfan schickt manchen Lkw nach Konstanz oder Hamburg: „Einer rief an, er habe 500 fabrikneue Schlafsäcke anzubieten. Da überlege ich nicht lange. Klar lohnen sich Frachtkosten bis an die Elbe für 500 Schlafsäcke. Das ist wie bei einem Unternehmen.“

Und immer wieder klingeln die Telefone im Büro. Eigentlich dürfte er sie nicht verlassen. „Was ist, wenn der Spediteur ausfällt und ich es nicht erfahre, wie neulich. Dann ist die Lagerhalle voll, und die nächsten Termine platzen.“ Oder die Botschaft könnte anrufen, daß das Visum da ist für einen Freund, der aus Sarajevo anders nie herauskommt. Deshalb suchen sie eine Sekretärin, die den ganzen Tag Zeit hat für das Büro. Und bosnisch muß sie sprechen. Früher sprachen alle serbokroatisch, heute heißt es kroatisch, serbisch oder bosnisch, je nachdem wer spricht.

Aida Saray (22) und Amira Bakija (23) können nur halbtags für Merhamed arbeiten. Es ist neben der Familie in Bonn ihr einziger Halt. Wo gehören sie hin? Bis zum Krieg studierten sie in Sarajevo Medizin und Philosophie. Eine lebenswerte Zukunft in dem verstümmelten Zerfallsprodukt, das von Jugoslawien übrigbleiben wird – unvorstellbar. Nicht auszudenken: die Eroberung des geliebten Sarajevo. Aidas Verwandtschaft ist dort eingeschlossen. Und was denkt sie über ihre deutschen Freunde? „Sie mögen mich. Aber mich belasten ganz andere Sachen. Hier in Deutschland spüre ich, daß Bosnien Balkan für die Leute ist und nicht Europa. Ich kann mich deshalb auch nur schwer als Europäerin fühlen. Die Deutschen sind wie gelähmt. Ich will hier nicht bleiben. Es werden immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, und Ausländerfeindlichkeit wird sich verschlimmern.“

Nicht für Irfan. „Ich habe mehr von den Deutschen angenommen als von den Bosniern. Ein Gefühlsmensch bin ich, das ist meine bosnische Mentalität. Aber ich habe den deutschen Pragmatismus.“ Diesen und seine gesamte Energie steckt er in sein Non-profit-Unternehmen. Die Telefonnummern von Deutschen und Ex-Jugoslawen sind sein Kapital. „Ich persönlich habe keine andere Wahl. Ich kann die Horrornachrichten nur ertragen, wenn ich von morgens bis abends etwas für die Menschen tun kann. Als unser erster Lkw bis oben voll war, das war ein Glücksgefühl für uns.“

Seine zweite Heimat Bonn hat er 1989 verlassen, um Militärdienst in Sarajevo abzuleisten und Betriebswirtschaft zu studieren. „Sarajevo, das hatte in Jugoslawien einen ähnlichen Ruf wie Köln, Atmosphäre, Flair, lustige, gastfreundliche Leute. Deswegen bin ich auch dahin gegangen. Das war eine Party ohne Ende. Da traf dich jemand und sagte, komm gehen wir zu mir essen. Hier denkst du, was will der von mir?“

„Warum gibt es nicht mehr Proteste gegen Serbien?“

Was denkt er über Deutschland, das sich an die Vernichtung Bosniens gewöhnt zu haben scheint? „Man kann nicht von jedem verlangen, sich so zu engagieren. Ich denke, die Deutschen sind irgendwie immer noch erschöpft vom Golfkrieg und der rassistischen Gewalt in ihrem eigenen Land. Deshalb bieten wir euch ja auch eine Struktur, die ihr nutzen könnt, um was zu tun. Viele helfen uns. Aber warum fordert nicht eine halbe Million in Bonn: Stoppt die Serben jetzt!?“ Deren Hinhaltetaktik geht auf: Die Vertriebenen verlieren ihre Heimat, und das Gemetzel geht weiter. Deshalb sind die bosnischen Gastarbeiterfamilien gegen das Herausholen der Flüchtlinge, von den Medien als Hilfe und Rettung dargestellt. Es legitimiere den Krieg Großserbiens: „Leider glauben zu viele den Medien. Das Fernsehen suggeriert, es sei das allerwichtigste, die Verletzten herauszukriegen, und gewöhnt die Leute daran, daß man den Serben freie Hand läßt. Sie berichten: Serben haben angegriffen, aber Bosnien hat zurückgeschossen. Als ob die Jugoslawen durchgedrehte Hitzköpfe sind, die sich nicht vertragen können und die man sich am besten die Köpfe einschlagen läßt, bis sie von selbst zur Vernunft kommen.“ Solche Balkanklischees kennt Irfan von Studenten, die mal mit einem der Lkws mitfuhren und sich wunderten, daß die Bosnier ganz normal waren. Auch Deutschland kennt Haßentwicklungen, die mit denen in Serbien, Kroatien und Bosnien zu vergleichen sind, meint Irfan: „Wenn man Minderheiten über die Medien aufhetzt und militärisch drillt, sind sie auch in Deutschland zu allem fähig: zum Beispiel Jugendliche, die Molotowcocktails in Schlafzimmer werfen oder Penner anzünden.“

Irfan und sein Freund Elvir machten der älteren Generation einen Vorschlag: einen richtigen Verein. Die Jungen führten dessen Geschäfte, weil die Älteren als Selbständige keine Zeit hatten. Sie stellten sich bei der SPD vor, organisierten Veranstaltungen, schrieben Briefe mit dem Merhamed- Emblem an viele Unternehmen und Medien. Über einen Bekannten bot man ihm 200.000 Ampullen Lokalanästhetika an. „Ich dachte, es muß doch möglich sein, in die freien Gebiete Bosniens mit dem Lkw reinzukommen.“ Auf gut Glück mietete er einen Lkw und brachte im September als erster Hilfsgüter aus dem Ausland nach Zentralbosnien. „In den Krankenhäusern von Mostar, Konjić, Jablanica und Pasarić waren sie überglücklich.“ Reifen zerrissen auf den Schotterwegen, seitdem wird in Split auf kleine Lkws umgeladen. „Das muß man sich mal vorstellen, wieviel das Kilo Mehl kostet, das aus dem Flugzeug fällt. Die müßten den Landkorridor frei machen, das wäre viel billiger für den Steuerzahler“, meint Irfan. Heute holt er Geld bei der Kassiererin von Merhamed: der 65jährigen Änderungsschneiderin Fatima Dedić. Die zarte alte Dame mit verschnörkelten Goldhalskettchen ist ihre Schwester und holt einen Stapel Tausender aus der Werkstatt. Im Schaufenster der verschlafenen Feineleutegegend mitten in Bonn stehen Blumentöpfe und schwarze gußeiserne Uraltnähmaschinen mit goldenen Ornamenten. Unter der Glasplatte liegt ein Spendenaufruf von Merhamed an die verehrte Kundschaft. Sie küßt Irfan auf beide Wangen; die übliche Begrüßung unter Bosniern. 3.000 kriegt der slowenische Spediteur, 2.000 weniger als ein deutsches Unternehmen. Für weitere 3.000 kauft Irfan einen Computer, der heute noch nach Zagreb gefahren wird. Das Geld ist ein Bruchteil der 60.000 Mark, die ein Benefizkonzert, Motto: „Ich helfe!“, einbrachte. Mit Entertainer Ron Williams, Anita Davis, Valerie Scott, bosnischen Gruppen und Redebeiträgen von Tilman Zülch und dem Bundestagsabgeordneten Stefan Schwarz. Elvir Zeković (24): „Es war eine Riesenparty. 2.000 Bosnier und Kroaten und 1.000 Deutsche.“ Er ist Mitinhaber einer Werbeagentur und hat als PR-Mann von Merhamed die Künstler, die durch Deutschland tourten, für einen Auftritt ohne Gage in einer Kölner Discothek gewonnen. Für Bosnien stellte auch Coca-Cola die nichtalkoholischen Getränke kostenlos, andere Unternehmen zahlten gegen Label-Placement die Werbung und die Plakate.

„Warum sagen die Moslems? Wir sind Bosnier!“

Berufsverkehr. Irfan hat es eilig. Er muß heute noch nach Frankfurt zum Präsidenten und Trainer der Fußballmannschaft von Sarajevo. Die komplette Mannschaft ist nach zehn zermürbenden Tagen über den Flughafen hinübergelangt – in den bosnisch kontrollierten Teil Sarajevos. Die UNO-Soldaten haben nach vier Nächten auf dem Flughafen beide Augen zugedrückt. Jetzt soll es Benefizspiele geben. Bosnien gegen Bayer Leverkusen und Bosnien gegen Kroatien, die beiden Partien stehen fest. Nur beim Autofahren hat Irfan Zeit zum Erzählen. „... das Flugverbot gewaltsam durchzusetzen. Es richtet sich vor allem gegen die Serben und soll die Moslems unterstützen ...“, tönt es aus dem Autoradio. „Warum sagen die Moslems?! Wir sind Bosnier“, kommentiert Irfan und gibt Gas.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen