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Spacen: "Künstliche Extremsituation"

■ Ausgestiegener Surfer und Soziologe zu Realität und Hintergründen dees Zugsurfens

Spacen: „Künstliche Extremsituation“

Ausgestiegener Surfer und Soziologe zu Realität und Hintergründen des Zugsurfens

„Surfen ist ein total irres Feeling. Man fühlt sich völlig frei, ist hochkonzentriert und kann alles andere, Streß mit den Eltern zum Beispiel, vergessen.“ Zwei Jahre lang warder jetzt siebzehnjährige Simon beim „Spacen“, wie das Zugsurfen im Szene-Jargon heißt. Aufgegeben hat er seinen gefährlichen Sport vor einem Jahr, als er einsah, „daß es schon Schwachsinn ist, dieses Risiko einzugehen“, und weil er sich sein weiteres Leben nicht von einer Strafanzeige wegen Surfens verderben lassen wollte.

Diese Einsicht kommt für den 14jährigen Schüler aus Lesum zu spät, der am Sonntag abend beim Surfen auf der City-Bahn in Gröpelingen abstürzte und starb (die taz berichtete gestern).

Wie man surft? Das geht so, sagt Simon: „Fenster auf, am Gepäcknetz festhalten und die Füße draußen auf der Leiste abstellen.“ Beim „Schweinebaumeln“ klemmt man die Kniekehlen ins Fenster und hängt sich draußen mit dem Kopf nach unten — im Abteil muß nur ein Freund die Beine gut festhalten. Bei Geschwindigkeiten von 120 Stundenkilometern läßt es sich allerdings schlecht atmen, länger als eine Minute hält man das selten aus.

„Die Gefahr kennt man, aber sie ist kalkulierbar, wenn man die Strecke kennt“, meint der Ex-Surfer. Wenn man ein paar Regeln beherzige, passiere eigentlich auch nichts, sagt Simon. Die Regeln: „Nicht übertreiben, die Strecke kennen, die eigene Kraft einschätzen.“ Dann könne man höchstens noch einen Krampf im Arm bekommen und „abklatschen“, wie die Surfer das Abstürzen nennen. Denn der Tod fährt immer mit: einem Freund, der „so blöd war, mit Alkohol im Blut zu surfen“, habe ein Mast den Rücken aufgerissen, erzählt der 17jährige Aussteiger.

Auch Simon erzählt von Situationen, wo er nahe am „Abklatschen“ war: Als er sich zu tief runterhängen ließ und ihm ein Signalkasten fast die Beine abgerissen hätte, als sich seine Schnürsenkel im Fenster verhakten oder als er aus eigener Kraft nicht mehr in den Waggon zurückkonnte und die Freunde ihm helfen mußten. Ohnehin ist „Spacen“ nur in der Gruppe richtig gut: „Bis zu 20 Leute ziehen los, um zu sprayen, zu rappen und auch um zu surfen.“ Teilweise hängen die Kids aus der Bremer Surfer-Szene zwischen 10 und 18 Jahren auch an den Zügen nach Hamburg oder Hannover. Die anderen Passagiere sagen nichts, wenn sie surfen, meint Simon, und auch die Schaffner „haben Respekt vor 20 Leuten, die oft auch bewaffnet sind“.

Polizei und Bundesbahn wissen von der Bremer Surfer-Szene (Simon: „Das sind bestimmt 50 Leute“) nichts. Für Peter Alheit, Professor für Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Bremer Universität, ist die Schaffung von künstlichen Extremsituationen wie Zugsurfen eine Reaktion auf das Leben in einer durchorganisierten Welt. „Einerseits verlieren wir den sinnlichen Bezug zu unserer Umwelt, der unmittelbare Kontakt zur Natur wird immer schwieriger. Andererseits befriedigen die Medien scheinbar unsere Sucht nach Erleben durch totale Reizüberflutung.“ Auf diese Situation reagieren die Menschen mit einem „Spannungsschema“, meinen die Soziologen: Weil wir sonst nichts mehr fühlen, schaffen wir uns Extremsituationen, in denen wir Todesängste ausstehen. „Bungee-Jumping ist das Paradebeispiel dafür“, sagt Alheit, „eine absurde Aktivität, die allgemein beklatscht wird.“

Mit einem solchen Spannungsschema reagierten auch die Zugsurfer, meint Soziologe Alheit. „Sie planen nicht eine Aktion, die ein Risiko beinhaltet, sondern das Erleben des Risikos an sich. Die Jugendlichen wollen sich selbst spüren, weil sie anderswo ausgegrenzt werden.“ Das Spannungsschema finde sich vor allem an Jugendlichen beim Übergang in die Erwachsenenwelt. „Man könnte sagen, Zugsurfen ist so etwas wie ein Initiationsritus in unserer Gesellschaft.“

Bernhard Pötter

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