Diese seltsame Anhänglichkeit

■ Mit Jürgen Fuchs sprach Marko Martin über die deutschen Intellektuellen in den Diktaturen

Ulrich Greiner plädierte kürzlich in der Zeit für eine Beendigung der Stasi-Debatte, da ihr die Maßstäbe fehlten und überhaupt alles sehr unerfreulich und zäh verlaufen würde. Was sagen Sie dazu?

Jürgen Fuchs: Das Thema Repression – Geheimdienste, Druck auf Menschen, das Aushebeln von Öffentlichkeit (vom Waffenexport bis zu den ausgefeiltesten Sozialtechniken) – ist doch viel zu groß, als daß es durch den Stimmungsumschwung irgendeines Redakteurs einfach zu beenden wäre. Schon der Gedanke ist anmaßend und lächerlich. Was ist denn alles geschehen, was muß diskutiert werden? Unser Jahrhundert hat ja nicht nur Weltkriege, KZs, Gulag, versuchte Völkervernichtung zu bieten, sondern auch diese perfiden, verfeinerten Formen der Seelenvernichtung, des Kleinmachens zu Denunzianten und Mitläufern. Hunderttausendfach ist das geschehen. Und nur mit Blick auf die kleine DDR nach 1945! Es ist aber überall ein Thema, zumindest potentiell. Schauen Sie nach China, Irak, in die Türkei, den Iran. Seit geraumer Zeit ist ein weltweiter Übergang von der physischen zur psychischen Folter festzustellen. Lesen Sie die Berichte von amnesty international! Bosnien: das Töten kehrt zurück, kommt näher. Das dichtgedrängte Stehen von Frauen und Kindern auf offenen Lastwagen. Warum sollen wir hier, in Deutschland, aufhören, von modernen Gefahren zu sprechen, mit denen wir Erfahrungen haben? Warum sollte man damit aufhören? Weil das keine news mehr sind in den Redaktionen? Weil es länger dauert, verwickelter ist, elender und kleinkarierter als gedacht? Weil in Moskau der KGB ungebrochen stark ist? Es sind keine Debatten zu beenden, sondern es ist einfach Realität zur Kenntnis zu nehmen. Im übrigen hat es immer den Angriff des Neurotikers auf die Wirklichkeit gegeben, die er möglichst vollständig beherrschen wollte. Bis hinein in die Definition, was Wirklichkeit ist, sein darf und was nicht. Die Stasi mit ihrer Kontrollwut, ihren „aktiven Maßnahmen“ und peinlichsten Verschriftungen ist ein typischer Beweis dafür. Vielleicht setzt sich dieses paranoide, aggressive Verhalten jetzt fort: man will bestimmte Tatsachen einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Aber der Versuch, der Wirklichkeit den eigenen Willen aufzuzwingen, ist immer wieder gescheitert. Wir verlieren dabei Zeit – die Lobby der Täter, Schönredner und Beschwichtiger ist groß, nicht nur in Potsdam.

Dennoch sind in dieser Debatte schrille Töne überraschend. Etwa, wenn Günter Gaus von „schwach begabten Literaten“ spricht, die in der Stasi-Aufarbeitung „nur ein Mittel der Selbstbefriedigung“ sähen, oder Walter Jens über weggegangene Autoren klagt, die zu früheren Zeiten DDR-Orden erhalten hätten und jetzt sehr inquisitorisch seien... Weshalb diese Heftigkeit?

Diese Andeutungsreden sind nicht neu. Ich habe solche Sätze immer wieder im Schriftstellerverband gehört, als es um die Solidarität mit den polnischen Kollegen ging, während des Kriegsrechts. Wie zögerlich, umständlich, abweisend und politisch vorwurfsvoll da argumentiert wurde! Wer Solidarnosc unterstützte, wollte den Osten unterwandern und war eine „Fünfte Kolonne“. Da sind Gaus und Jens noch ganz moderat. Dennoch ist das alles peinlich und unter Niveau. Wer hat Orden bekommen, wer ist inquisitorisch? Kant, Henniger, Stolpe, und wer noch? Was auffällt, ist das fast vollständige Versagen linker, westdeutsch- behüteter Intellektueller in der Ost-West-Auseinandersetzung. Es ist zu besprechen die weitverbreitete Kollaboration mit dem Stalinismus, der sich anders nannte; mit Frieden, Gerechtigkeit, Sozialismus und so weiter schmückte. Dabei war es eine gewöhnliche, eher schäbige Diktatur – mit Mauer und Stacheldraht sogar penetrant leicht erkennbar. Da mußte dann noch was anderes dahinter sein für Schöngeister wie Rühmkorf und Gremliza. Die Wirklichkeit des Ostens wurde geschönt, verschwiegen, verkleistert. Was mitunter herauskam, war ein Hocken in Gästehäusern, Friedensrunden und Ständigen Vertretungen. Die Tür des Großen Empfangs ging auf, und der kritische Demokrat stand plötzlich gemeinsam auf einem Teppich mit dem Chef einer staatsterroristischen Einheitspartei...

Sie verwerfen jegliche Form von Diplomatie, Ausgleich und friedlicher Koexistenz?

Nein. Natürlich ist Diplomatie, auch das vorsichtige Gespräch, wenn etwas für die Menschen herauszuholen ist, zu achten. Böll sagte: „Gehen wir zu Hofe“, und er meinte Aktionen im Sinne von amnesty international, also verhandeln, sich nicht abweisen lassen. Aber Heinrich Böll fügte hinzu: „Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß wir zu Hofe gehen!“ Wir treffen also nicht irgendwelche Freunde, sondern versuchen, unseren Gegnern Menschenrechte abzutrotzen. Diese Haltung aber war verwischt, und deshalb ist es auch legitim, von Kollaboration zu sprechen, die zumindest verbal mit den Staaten des Ostens gemeinsame Sache machte gegen die kritischen Menschen dort. Ich erinnere zum Beispiel an die Stellungnahmen von Walter Jens zum Studentenmord auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Wie ausweichend hat er geantwortet, als er um eine Stellungnahme gebeten wurde. Nichts von rhetorischer Schärfe – leider. Ich kann und will das nicht vergessen. Der moralische Anspruch, mit dem bis heute weitergemacht wird auf oberster Sprosse, überzeugt mich nicht. Es ist vielleicht nur das Fortsetzen von Biographien, als wäre nichts geschehen.

Walter Jens räumte neulich in einem Interview ein, daß man die Unterstützung der Dissidenten tatsächlich vernachlässigt habe...

Ich will es nicht an einzelne Namen binden. Ich bejahe auch Brüche, man kann sich irren. Wer hat schon alles richtig gemacht und vorausgesehen. Ich möchte auf die harte und infame Entwertung der dissidentischen Arbeit bei erheblichen Teilen der Intellektuellen hinweisen. Nicht nur Stasi-Offiziere wie Wiegand und Reuter, nicht nur Spitzel wie Anderson dachten sich Zersetzungspläne zur Entpolitisierung und „Loyalisierung“ aus. Es gab eine Haltung, eine vorurteilsvoll gehätschelte Betrachtungsweise: Schriftsteller in Opposition, Bürgerrechtler sind doch eher Querulanten und „Fälle“, Spinner mit Kerzen und Petitionen, Moralisten und Beschränkte, die dauernd von Menschenrechten schwafeln und keinen Sinn für die größeren Zusammenhänge haben. Was für eine Desolidarisierung, was für ein Raushalten! Bis heute finden Sie diese brutalen Beurteilungsmuster. Es ist eigentlich nur eine Zugabe, daß die Stasi dies forcierte und benutzte. Es ist ja noch gar nicht besprochen, wie weit westliches Appeasement ging, wie sich auf kulturellem Gebiet eine Art mafiose „Koko“ gebildet hat. Ich erinnere nur an die subtile Hetze gegen Anna Jonas, die als Vorsitzende des Schriftstellerverbandes nach dem Rücktritt oder der Abwahl von Engelmann und Bleuel nicht mehr diese Liebedienerei gegenüber den DDR-Offiziellen mitmachen wollte. Und es amüsiert mich fast, wie genau diejenigen, die sich der Diskussion stellen müßten, am dringlichsten die Debatte beenden wollen und erneut die attackieren, die damals schon Widerspruch anmeldeten. Alles geht nach dem Motto: Wenn wir uns geirrt haben, haben sich alle geirrt, keiner hat recht, und deshalb ganz schnell Schwamm drüber. Oder die kessere Variante: So schlecht war der DDR-Staat nicht, das sieht man ja jetzt. Kein Berührtsein von den Fakten der Verfolgung, kein Nachfragen. Statt dessen weiterhin Verdrängung, Aggressivität, abgezirkelte Statements oder wortreiches Schweigen. Und viele Westintellektuelle tun so, als ob sie gar nicht dabeiwaren. Sie haben einen angeekelten Blick auf die Akten und wenden sich lieber angenehmeren Dingen zu.

Für Ihr Wort vom „Auschwitz in den Seelen“ bezüglich der Stasi- Akten haben Sie sehr viel Kritik erhalten. Wie haben Sie das damals eigentlich gemeint?

Viele haben mich auch verstanden, wie sich an Briefen und Anrufen zeigte. Ich meine das Gegenteil von dem, was man mir vorwarf: gerade kein Aufrechnen der Diktaturen gegeneinander, kein Beschwichtigen und Relativieren von Schuld und deutschem Verbrechen. Mir ging es um die Kennzeichnung eines Zusammenhangs, der in Deutschland in wichtigen Teilen ein Täter-Zusammenhang ist. Mit großer innerer Bewegtheit habe ich jetzt noch einmal Claude Lanzmanns „Shoah“ angesehen, die Art, wie und wonach er fragt, herumreisend in Polen, Israel und Deutschland, was ihm Menschen antworteten. „Tja, die SS hat nicht viel geredet, die hat gehandelt.“ Der Hinweis auf die zupackende Promptheit und Handlungsbereitschaft. Dazu das Anlegen von Plänen des Abtransports, Wagennummer, Gleis 2 und 3, Stempel dazu, Vordruck, alles korrekt und offiziell. Wenn es „offiziell“ ist und von oben angeordnet, macht man es. Auch den industriell geplanten und durchgeführten Massenmord am jüdischen Volk, an anderen „Feinden“. Hinterher ist man wieder Papi, Buchhalter, Bergsteiger. Das empfinde ich auch, wenn ich in diese Stasi-Büros komme, ihre Sprache lese, die Vordrucke, die „Zersetzungspläne“...

Sie setzen es also gleich?

Nein, das ist kein Gleichsetzen, sondern der Hinweis auf Ähnlichkeiten, auf einen äußeren und inneren Mechanismus von Gehorsam, Destruktivität, Unterordnungsbereitschaft und auch Fähigkeit, über Tabus und Grenzen hinwegzugehen, wenn es der Vorgesetzte, der Führer oder der „Genosse Minister“ anordnen oder als „DA“, als „Dienstanweisung“ herausgeben. Dann werden Menschen „operativ bearbeitet“, in die Mangel genommen, von „IMs“ ausgehorcht, irritiert und „zersetzt“.

Ich weise auf das Monströse, Penetrante hin. Sehen Sie sich doch genau die Sprache dieser Partei- und Stasi-Leute an. Und mein Mitgefühl gilt denen, die Opfer wurden. Junge Leute im Jugendwerkhof Torgau, Friedensgruppen, Jugendpfarrer, Punks, kleine anarchistische Zirkel, Zeugen Jehovas, Ökogruppen. Die Neonazis aber fielen lange unter „Rowdys“. So etwas konnte und durfte sich nicht entwickelt haben im Land des „verordneten Antifaschismus“ (Ralph Giordano).

Die deutschen Intellektuellen in den Diktaturen

Was leiten Sie daraus ab, was ist Ihre Forderung?

Die Fakten zur Kenntnis nehmen. Sie wissen wollen. Diese schreckliche Verkürzung auf wenige Namen wie Stolpe und den Theologen Fink, die nur „mit dem Staat“ gesprochen haben und das Häßliche, Benutzende durch den Stasi-Apparat nicht wahrhaben oder zugeben wollen: Es wurde von Wiegand und seinen Leuten der MfS-“Kirchenabteilung“ XX/4 viel vernichtet. Aber einiges fand sich und wird auch demnächst auftauchen. Sehen Sie sich dann in Ruhe an, wie in Gemeinden, Gemeindekirchenräte, in Theologische Fakultäten, in Junge Gemeinden eingedrungen wurde. Fiese und raffinierte Praktiken des Rufmords wurden praktiziert, das „Politisch-Operative Zusammenwirken mit anderen staatlichen Organen und Einrichtungen“ klappte, man schickte „Zersetzungsgruppen im Verhältnis 1:10“ in kirchliche Veranstaltungen und versuchte auch, den unliebsamen, oppositionellen Pfarrer zu kippen. Oft mit Hilfe von Amtsbrüdern, die sich vom MfS lenken ließen, nicht von Gott. Im Sinne der Aufklärung muß man sich mit diesem Alltag der Unterdrückung, auch des Widerstands gegen diese Methoden beschäftigen. Das ist aus meiner Sicht das Mindeste. Der Ruf nach dem Ende der Debatte ist aus dieser Sicht zynisch, oberflächlich und mitleidlos.

Da wurde auch Psychologie eingesetzt. Gibt es dafür Beweise?

Ja, der Mißbrauch von Kenntnissen der Psychologie, von Sozialtechniken, auch das Verwenden von Fachbegriffen, ist ganz offensichtlich. Es gab auch einen Lehrstuhl für „Operative Psychologie“, da wurden dann unter anderen Vernehmer und Mitarbeiter der Abteilung XX, zuständig für die Bekämpfung der „PUT“, der Politischen Untergrundtätigkeit, geschult. „Für, mit und gegen Menschen“, wie es in einem Dokument heißt. Außerdem bildeten DDR- Universitäten MfS-Offiziere aus. Ich erinnere an Jean Améry, der eindrucksvoll beschrieb, was es für Folgen hat, wenn der „Mitmensch zum Gegenmenschen“ wird oder gemacht wird, siehe IMs, „Inoffizielle Mitarbeiter“.

Es steht immer wieder die Frage im Raum, ob der jetzige Umgang mit den Stasi-Akten der richtige sei. Die Gauck-Behörde ist nicht unumstritten...

Oskar Negt nennt zwei Mißgeburten der deutschen Einheit: die Treuhand und die Gauck-Behörde, und fast wörtlich wird diese These in einem kürzlich publizierten Gesprächen zwischen Günter Grass und Regine Hildebrandt wiederholt. Die Behörde würde sich der Kontrolle durch Parlament und Bürger entziehen und statt dessen nur willkürlich IM-Namen ausspucken. Vielleicht sollte man sich einmal daran erinnern, unter welch großem persönlichen Einsatz die Bürgerkomitees verhindert haben, daß Geheimdienst und Partei völlig leere Regale hinterließen. Wie dann eine breite Diskussion stattfand und das Akten-Gesetz mit großer Mehrheit im Bundestag verabschiedet wurde – parteiübergreifend und transparent, wie man es sich auch für eine Verfassungsdiskussion wünschen würde. Tag für Tag kommen Leute in die Lesesäle, sehen zum ersten Mal das, was heimlich und hinterrücks über sie zusammengekritzelt und was gegen sie ausgeführt wurde. Hier wird ein Informationsverbrechen beendet, indem sich die Bürger ein Stück ihrer Biographie aus den Akten eines „staatlichen Organs“ zurückholen. Haftjahre, Schulverweise, Schikanen, Drohungen, Zersetzungsmaßnahmen – all das bekommen die Opfer jetzt endlich dokumentiert zu Gesicht und können damit beweisen, daß eben nicht alles grau in grau war, daß eben nicht alle mitmachten und klein beigaben. Und Negt und Grass, diese beiden Intellektuellen, die in der Vergangenheit konsequent für die Menschenrechte eingetreten sind, vergessen genau in dieser Situation den einzelnen, den Bürger unten, um dessen Würde und um dessen Datenschutz es ihnen doch eigentlich gehen müßte. Was für eine Verkürzung und Ignoranz! Wenn ein gutes, auf Rückgewinnung der informationellen Selbstbestimmung gerichtetes Gesetz auf solche Weise attackiert wird, ist das natürlich ein Alarmsignal.

Frau Hildebrandt wörtlich: „Diese Behörde ist auch für mich ein Moloch. Ich bin froh, wenn ich da nicht hin muß... Jeder kleine Stasi-Spitzel wird jetzt enttarnt und bestraft, während von den Chefs, die auf der politischen oder betrieblichen Ebene ihre Karriere gemacht haben, überhaupt keine Rede ist. Diese Stasi-Debatte ist zum Kulturprogramm für die deutsche Gesellschaft entartet.“ Das sind deutliche Worte...

Da wird eine dem Parlament unterstellte Bundesbehörde von einer Ministerin als „Moloch“ beschimpft, und mit dem Wort „entartet“ in der Sprache des Dritten Reiches Opfer-Verhöhnung betrieben. Wer oder was ist denn hier „entartet“? Vielleicht sollte sich Frau Hildebrandt doch einmal die Zeit nehmen und einen Besuch in der Lichtenberger Ruschestraße machen. Sich früh hinstellen, die Besucher anschauen, die zur Akteneinsicht kommen. Viele sind schon alt, die meisten sind aufgeregt, suchen das Gespräch. Möchten auch ein Interesse, eine Wahrnehmung ihres Schicksals. Die Mitarbeiter sind voll gefordert, stehen oft vor schwierigen menschlichen Situationen. Nicht alles klappt, die Zahl der Wartenden ist zu groß, es gibt auch Bürokratie und Verwaltungsrhetorik. Aber ich sehe diese Menschen ankommen, die Klarheit haben wollen. Und sie teilweise bekommen, falls das Material nicht vernichtet wurde. Wie kann man diese Seite der Angelegenheit vergessen? Und was die „Überprüfungen“ angeht, hier bin ich für Milde. Aber gibt es denn eine Jagd auf kleine IMs? Ich möchte hingegen in bestimmten Berufen keine Spitzel und „Offiziere im besonderen Einsatz“ haben! Und wenn Frau Hildebrandt von den „Chefs“ spricht, die Karriere gemacht haben oder, füge ich hinzu, machen und von denen angeblich „überhaupt keine Rede ist“: Doch, von ihrem Chef ist schon die Rede, auch von seiner Registriernummer und von Orden. Die hat ihm nicht die Heilsarmee verliehen.

Verkommt die Auseinandersetzung zur bloßen Personendebatte?

Natürlich gibt es diese Gefahr immer, ein Tuscheln und Spreizen, ein Klingeln mit prominenten Namen. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig zu sehen, welche Haltungen einzelne hatten, was möglich war, was gewagt wurde und was nicht. Es gibt interessante Einschnitte, auch aus historischer Sicht. Denken Sie an die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, wie viele Leute dagegen aufbegehrten. Nicht nur Künstler, auch Arbeiter, Schüler und Studenten, Pfarrer... in Berlin und in entlegenen Kaffs. Aus den Stasi-Akten ist ersichtlich, wie viele Formen von Zivilcourage es gab. Und das soll unwichtig sein? Was für eine Verächtlichkeit gegenüber demokratischen Traditionen und konkretem, mutigem Verhalten von Oppositionellen. So gesegnet sind wir doch nicht mit Traditionen des Eintretens für andere, des solidarischen Verhaltens. Wir haben doch eher die anderen Traditonen. Natürlich kann man bei der Akteneinsicht auch so etwas finden: „Im Zusammenhang mit dem Ausschluß Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR äußerte...“, und jetzt kommt der Name eines Schriftstellers, ich nenne ihn nicht, es geht mehr um die Haltung, „...auf der Tagung des Präsidiums des PEN-Zentrums der DDR am 12.11.76, daß er gewisse Vorbehalte habe, ob es weise gewesen sei, Kunze auszuschließen. Er habe auf Befragen in der BRD nach seiner Meinung über das Buch Die wunderbaren Jahre gesagt, daß er es für schlechte Literatur und tendenziös halte.“ Und das von einem PEN- Mitglied gegenüber einem Kollegen, dessen Buch tatsächlich eine Tendenz hat, die der Wahrhaftigkeit, die der ehrlichen literarischen Sprache. Und Kunze wurde verfolgt, kurze Zeit später aus dem Lande gedrängt mit seiner Familie! Und noch ein anderes Beispiel, auch aus dem Jahr 76, viele gingen für ihren politischen Protest gerade in diesem Jahr in den Knast. Von prominenter Autorenseite wird ein Brief ins ZK gereicht: „Ich habe die Anfrage zu Wolf Biermanns Ausbürgerung mitunterzeichnet, weil ich das internationale Ansehen der DDR, für das ich mich als Schriftsteller mitverantwortlich fühle, dadurch geschädigt sah... Ich distanziere mich von der Umfälschung der Meinungsverschiedenheiten über die Lösung eines ideologischen Problems in eine Konfrontation durch die kapitalistischen Medien. Der Versuch, den Vorgang zur Hetze gegen die DDR und den Sozialismus zu mißbrauchen, war vom Klassengegner zu erwarten, das Gesetz unseres Handelns bestimmt er nicht... Die wirklichen Probleme in unserem Land, um die es mit bei der Unterschrift ging, werden nirgendwo anders bewältigt als in unserem Land, von niemandem anders als von uns selbst und mit Sicherheit ohne den Beifall unserer Feinde.“ Wolf Biermann als „ideologisches Problem“... die Weltöffentlichkeit, auf deren Reaktion ich jeden Tag im Gefängnis hoffte, als Feind, als Hetze... Dieses Einknicken vor Honecker und seinem Apparat ist so bitter und traurig.

War das unmittelbare Einflußnahme des MfS? Wurden hier Schriftsteller zu IMs gemacht?

Das Hinüberwechseln auf die Seite derer, die ausbürgerten, zersetzten und inhaftierten, hat gar nicht nur mit IM-Tätigkeit, Unterschrift, Verpflichtungserklärung, ja oder nein zu tun. Das geht viel tiefer. Kann ich mich losreißen von der Diktatur, von der Angstmache, von den heimlichen Gesprächspartnern? Wage ich, das fest sitzende Gummiband zu zerreißen? Untreu zu werden, ein Abtrünniger? Und bin ich, im anderen Beispiel, langsam locker genug, die hochfahrende Schößchen-Haltung aufzugeben, die überlegen tut und einknickt, wenn Papi mit den Augen rollt? Das geht ja alles tiefer. Man kann das verweigern, aber die Fakten müssen raus. Was ist, muß benannt werden. Mit und ohne Segen von Feuilleton-Chefs, Bundespräsidenten und Altbundeskanzlern.