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Ex-Premier Bérégovoy wählte den Freitod

■ Offenbar verkraftete er die Wahlniederlage und persönliche Angriffe nicht

Paris/Nevers (AFP) – Vier Wochen nach der Wahlniederlage der französischen Sozialisten hat der frühere sozialistische Premierminister Pierre Bérégovoy am Samstag bei Nevers, in seinem mittelfranzösischen Wahlkreis, Selbstmord verübt. Nach offiziellen Angaben starb der 67jährige am späten Abend während des Hubschraubertransfers in ein Pariser Krankenhaus an einem Kopfschuß, den er sich mit der Dienstwaffe seines Leibwächters versetzt hatte. Aussagen enger Mitarbeiter zufolge war Bérégovoy seit mehreren Wochen deprimiert. Er hatte allem Anschein nach die schwere Niederlage seiner Partei bei den zurückliegenden Parlamentswahlen und besonders die persönlichen Angriffe nicht verkraftet, die seit den kürzlichen Enthüllungen über eine Finanzaffäre gegen ihn geführt wurden.

Aus den Stellungnahmen enger Vertrauter und Mitarbeiter ging übereinstimmend hervor, daß Bérégovoy die Wahlschlappe und die unmittelbar danach einsetzenden Verfallserscheinungen seiner Partei schwer belastet hatte und er sich als mitverantwortlich für den Mißerfolg fühlte. Besonders bedrückten ihn daneben die Zweifel an seiner persönlichen Integrität, die mit der Enthüllung über ein zinsloses Darlehen verbunden waren, das er 1986 von dem später wegen einer Börsenaffäre ins Zwielicht geratenen Unternehmer Roger-Patrice Pelat angenommen hatte. Bérégovoy, der bei seinem Amtsantritt 1992 hartes Durchgreifen gegen Filzwirtschaft und Korruption angekündigt hatte, konnte die Rückerstattung dieser Summe nicht voll belegen und sah sich zudem dem Verdacht ausgesetzt, Pelat dafür in anderer Weise entgegengekommen zu sein.

Der tragische Freitod des aus bescheidenen Verhältnissen stammenden und allgemein als rechtschaffen anerkannten Politikers löste in Frankreich große Betroffenheit aus. Zahlreiche sozialistische Politiker verurteilten die Art und Weise, wie die Informationen über das Pelat-Darlehen behandelt worden waren. Der ehemalige Kulturminister Jack Lang sprach von „stetiger Verleumdung“, der Bérégovoy in seinen letzten Amtswochen ausgesetzt gewesen sei, und erklärte, Bérégovoy sei „Opfer des politischen Establishments“ geworden. Sein Tod solle jedermann „eine Lehre“ für „zivilisierteren“ Umgang in der Politik sein. Die mangelnde Anerkennung für seine Leistung und Verleumdung hätten Bérégovoy in die Verzweiflung getrieben, meinte der sozialistische Parteivorsitzende Michel Rocard. Michel Bérégovoy, ein Bruder des Verstorbenen, erklärte, die Urheber der „Verleumdungen“ hätten Pierre Bérégovoy „getötet“.

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