: Fremde Heimat, fremdes Deutschland
Die Zahl der Arbeitsmigranten im Rentenalter steigt / Die Träume von der Rückkehr in die alte Heimat halten dem Alltag in Deutschland nicht stand / Frankfurter Modellversuch mit Beratungsstelle ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Stavros strahlt und stellt die Stühle in den Vorgarten seines Lokals. Die Sonne scheint fast so hell vom Himmel wie daheim in Griechenland. Deshalb gibt es das Glas Ouzo zum Lammbraten heute auch gratis. Und dann wird Stavros, der grellbunte Hemden bevorzugt, auf seine Linie achtet und die Gäste mit jungenhaftem Lächeln begrüßt, richtig kokett und läßt seine Gäste raten: „Wie alt, denkt ihr, bin ich denn?“ Die verschämt gemutmaßten 45 Lebensjahre, die sie ihm zutrauen, lacht er zufrieden weg. Morgen wird er nämlich 60. Daß die fröhliche Vorfeier dann zur Reflektion eines Einwandererlebens auf Vergangenheit und Zukunft wird, liegt nicht nur am Wein. Stavros ist vor 25 Jahren aus Athen nach Deutschland gekommen, um in der Fabrik zu arbeiten. In dem Automobilwerk lernte er seine Frau kennen. Sie war zusammen mit ihren Brüdern wegen politischer Verfolgung aus Griechenland geflüchtet. Irgendwann warfen sie ihr Geld zusammen und pachteten ein Gartenlokal. Als das erste Kind unterwegs war, machten sich Stavros und Christina selbständig und betreiben ihr kleines Eckrestaurant mit dem winzigen Vorgarten seit 18 Jahren. Inzwischen sind die Kinder groß, die Tochter hat das Abitur bestanden und ihr Studium begonnen, der Sohn büffelt gerade für die Prüfung.
Und da kommt ein trauriger Zug in Stavros' Erfolgsgeschichte. Die Kinder werden, das haben sie ihm deutlich gesagt, in Deutschland bleiben, wollen hier arbeiten und leben und nach Griechenland nur noch in den Ferien fahren. Dort aber steht in einem Dorf bei Athen auf einem Hügel ein großes weißes Haus zwischen Bäumen und Blumen. „Mit allem drin!“ sagt Stavros anklagend: „Waschmaschine, Fernseher, Kühlschrank, neue Möbel!“ Das alles hat er sich als Alterssitz zusammengespart, wollte dorthin zurückkehren, sich zur Ruhe setzen und das Ersparte genießen. Daraus wird nun nichts. Stavros muß in Deutschland bleiben, wo er doch unter nichts so sehr leidet wie unter den kalten Wintern und den grauen Jahreszeiten. Aber, meint er: „Das geht doch nicht! Die Familie muß doch zusammenbleiben!“ Seine Gäste verraten ihm besser nicht, daß sich die Tochter bei ihnen schon erkundigt hat, ob die Freiburger Uni nicht vielleicht besser sei als die in Frankfurt.
Stavros ist immerhin nicht arm, noch nicht alt oder krank und auch noch nicht allein. Aber auch er wird in Deutschland alt werden, Rente beziehen und vielleicht pflegedürftig werden. Daß dieser Personenkreis wächst, daß er nicht wahrgenommen wird und keine Lobby hat, weiß die Psychologin Parvaneh Ghorishi. Die junge Türkin ist Beraterin im Frankfurter Bahnhofsviertel. Dort richtete das Amt für Multikulturelle Angelegenheiten im Sommer 1992 ein kleines Büro ein, das erste Anlaufstelle für alte Menschen aus den verschiedensten Ländern sein soll. Frau Ghorishi versteht sich vor allem als Vermittlerin zwischen den Betroffenen und Behörden, hat inzwischen auch einen kleinen Gesprächskreis eingerichtet: „Da merken die Leute wenigstens, daß es ihnen nicht alleine so geht.“ Deren größte Not, neben anderen Sorgen, aber seien Einsamkeit und Entfremdung – nicht nur hier, in der Bundesrepublik, sondern, und das erschüttere die Menschen in ihren Grundfesten, auch in der alten Heimat. Viele erzählen, daß sie versucht hätten, zurückzukehren, aber gescheitert seien. „Hier in Deutschland waren sie immer die Fremden, in der Türkei auf dem Land bleiben sie immer die Deutschen.“ In den Läden würden sie später bedient, schlechter behandelt und müßten mehr bezahlen als die „Einheimischen“. Verwandte und Bekannte sind weggezogen, gestorben oder kennen sie ganz einfach nicht mehr. Die wenige Verwandtschaft ist ihnen gram, wenn sie sich kein eigenes Haus leisten können, kennt sie oft auch ganz einfach nicht mehr und weigert sich, sie aufzunehmen. Manche pendeln, in beiden Ländern heimatlos, viele Jahre hin und her, geben die Wohnung in Deutschland einerseits nicht auf, schaffen es andererseits nicht, dort, wo auch sie jetzt als Ausländer gelten, wieder Fuß zu fassen. Viele, die den Heimatort nur noch aus dem Urlaub kannten, in dem sie, wie andere Touristen auch, für reich gehalten, hofiert und bewundert wurden, begreifen „die Dauerrealität nicht mehr“. Eine Frau berichtete, sie sei in der Türkei „noch neun Jahre lang als die aus Deutschland“ behandelt worden. Das habe sie einfach nicht mehr ausgehalten.
Und die Heimatlosen sind in der Heimat damit konfrontiert, daß ihr Traum zerstoben ist. Er stimmt mit dem Alltag nicht mehr überein. Zu viel hat sich in 20 Jahren verändert. Eine 16jährige Türkin amüsierte sich über ihren Vater, der das erste Mal nach 20 Jahren wieder Urlaub in der Türkei machte, um für das Alter zu sondieren: „Der hat nichts mehr gerafft in Ankara. Wie die Mädchen rumlaufen, daß die über die Pille reden und überhaupt.“ „Daß Normen und Sitten sich geändert haben, das kann“, so Ghorishi, „ein richtiger Kulturschock sein.“ Der aber müsse erst einmal verarbeitet werden: „Das Pendeln zwischen den Welten kann fünf, auch zehn Jahre dauern. Der Wunsch hört nie auf.“
Dabei haben sich die Menschen ihren Ruhestand verdient. Viele sind vorzeitig gealtert, in der Produktion in den Fabriken aufgezehrt worden, „krank und verbraucht“. Und sie können sich nirgends mehr so recht einfügen. In Deutschland ist ihnen eine Integration versagt geblieben, sie haben sich abgeschottet, sind unter dem Druck der Beobachtung durch die heimatliche Verwandtschaft konservativ geblieben oder es immer mehr geworden und haben sich damit der einen Kultur verweigert und die andere idealisiert und sind in die Isolation geraten. Auffällig sei, daß viele sich im Alter immer mehr weigerten, Deutsch zu sprechen. Wenn sie es denn überhaupt jemals richtig gelernt haben. Im Schichtbetrieb hatten sie dazu oft gar keine Zeit. Oder sie sprechen etwas, das Parvaneh Ghorishi als „Fabrikdeutsch“ bezeichnet, eine Anhäufung einzelner Begriffe „ohne jede Grammatik“: „Wie kann man am Fließband auch Deutsch lernen?“ Ihre Kollegin Narges Eskandari weiß: „Viele merken erst in Rente, wie wichtig die Sprache ist.“
Die alten Männer, stellten die beiden Beraterinnen fest, haben es etwas leichter als die Frauen. Während deutsche Rentner oft genug der Sinnkrise anheimfallen und deren Frauen sich eher zu helfen wissen, sieht das bei den Einwanderern eher umgedreht aus. Die Männer können sich immerhin beim jugoslawischen Wirt oder im türkischen Caféhaus treffen, haben eigene Sportvereine. Die Frauen trauen sich im Alter noch weniger aus dem Haus. Außerdem hätten sie meist auch gar kein Geld dazu. Der Aufenthaltsstatus für sie ist auch oft ungesichert, wenn sie sich nicht selber finanzieren können. Ghorishi: „Ihre Daseinsberechtigung hier ist doch immer nur über die Arbeit bestimmt.“ Eine Frau habe ihr erzählt, sie fahre immer „nur so“ mit der Straßenbahn durch die Stadt, „um die Zeit totzuschlagen“. Sie traut sich wegen des ungeklärten Aufenthaltsstatus nicht auf das Sozialamt, um die winzige Rente aufzubessern. Außerdem, fürchtet sie, müßte sie dort ihr kleines Haus in Griechenland als Besitz angeben. Das aber will sie noch nicht verlieren. Auch wenn sie nicht dort wohnt, ist es ein „Nest“, ein „Altersnest, um vielleicht doch dort zu sterben“.
Eine Untersuchung des Amtes für Multikulturelle Angelegenheiten aus dem Jahr 1992 erhellt das bisher kaum bemerkte Problem statistisch: Bisher sind rund zwei Prozent der in Frankfurt lebenden MigrantInnen über 65 Jahre alt. Aber schon die darunterliegende Altersgruppe der 60- bis 65jährigen beträgt zehn Prozent. Und die Zahl der über 55jährigen hat die 20 Prozent in manchen Stadtteilen schon überschritten. Das Deutsche Rote Kreuz fordert als Träger der Beratungsstelle eine „Bedarfs- und Bedürfnisanalyse“. Auch Kirchen, Ausländerberatung und der Gewerkschaftsbund kommen in der Untersuchung zu Wort. Sie alle sind sich einig, daß etwas getan werden muß, und zwar schnell. Gefordert werden unter anderem multikulturelle Seniorenzentren und mehrsprachige Beratungsangebote. Einig sind sich die Institutionen, daß diesmal die Betroffenen befragt werden müssen und ein Mitspracherecht haben sollten – schon deshalb, weil niemand ihre Bedürfnisse so richtig kennt. Parvaneh Ghorishi fände es jedenfalls schon sehr hilfreich, wenn sich Heime, Kliniken und Pflegeeinrichtungen bei der Auswahl ihres Personals auf die Situation vorbereiten und Personal verschiedener Nationalitäten einstellen würden. Amtsleiterin Rosi Wolf-Almanasreh ist jetzt schon sicher, daß es jedenfalls mit „Kaffee-und-Kuchen- Altenbetreuung“ nicht getan sein wird. Auch Informationsbriefe an die Betroffenen nützten da gar nichts: „Die Leute kommen trotzdem nicht aus ihrer Isolation heraus.“ Wolf-Almanasreh: „Das ist ein mühseliger Dialog.“
Ghorishi und Askandari sehen das nach den ersten Erfahrungen mit ihrer Pionierarbeit auch so. Auffällig seien, haben sie beobachtet, „die vielen Depressionen“. Sie meinen damit weniger ein Krankheitsbild, sondern eher die Traurigkeit, die tiefe, innere Einsamkeit der Menschen: „Sie weinen viel, den ganzen Tag. Auch hier weinen sie viel.“ Witwen und Frauen, die von ihren Männern und Söhnen verlassen wurden, leiden besonders. Sie fühlen sich vom Leben betrogen. Die Häuser, die sie in mühsamster Arbeit und für die kommende Generation in der Heimat gebaut haben, stehen leer: „Der Sohn will das nicht haben. Und das ist der Tod der Mutter.“ Ghorishi: „Wir versuchen, die Frau in behutsamen Gesprächen zu beruhigen, ihr zu vermitteln, daß sie nicht vergeblich gelebt hat. Aber das ist schwer.“ Denn die Problemlösungsmöglichkeiten sind rar. Narges Eskandari: „Manchmal ist es schon gut, wenn sie das Gefühl haben, daß ihnen jemand zuhört und sie überhaupt wahrnimmt.“ – Währenddessen sitzen an einem schönen Frühlingsnachmittag zwei alte Vietnamesen im Stadtteil Hausen am Ufer der Nidda. Sie sind Kontingentflüchtlinge und wurden bei ihrer Ankunft in den 70er Jahren heftig gefeiert. Inzwischen sind sie im Rentenalter und wissen nicht, wohin sie zurückkehren sollen. Ihr Heimatdorf gibt es nicht mehr. So vertreiben sie sich den Tag mit der Angel. Daß sie die Fische aus dem verschmutzten Fluß nicht essen können, wissen sie auch. Die werden nach dem Fang wieder zurück ins Wasser geworfen. Aber, erklärt einer von ihnen, die Angelei sei „so ein bißchen wie daheim“.
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