: Das Vergessen und die Alpträume
■ Eine Ausstellung in der Gedenkstätte an das Konzentrationslager Bergen-Belsen
Das Vergessen und die Alpträume
Eine Ausstellung in der Gedenkstätte an das Konzentrationslager Bergen-Belsen
In ihren Fieberträumen entwarf die junge Frau unentwegt Modellkleider. Vor ihr stand auch ein rotblondes Mädchen in hellgrauem Rock, dunkelgrüner Seidenbluse und weißem Jäckchen. Mit ihren langen, braunen Beinen stieg sie in ein Auto, das sie zu einem Wochenende an die See brachte. Die Träumende roch den kräftigen, salzigen Seewind, der stärker war als der Gestank des Kohls um sie herum. Sie vergaß die –Achtung“-Rufe, die Strohmatratze und das Heimweh.
Von der Existenz des Lagers gibt es nur wenige als Fotos erhaltene Dokumente
Die damals 25jährige Amsterdamer Jüdin Renata Laqueur nahm Zuflucht aus der unerträglichen Wirklichkeit in Zeichnungen, als sie im Frühling 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen eingeliefert wurde. Ihre Bleistiftskizzen sind Teil einer Ausstellung von Häftlingszeichnungen, die vom 10. Mai bis 31. Juli in der Gedenkstätte Bergen-Belsen gezeigt werden.
Renata Laqueurs Arbeiten bilden unter den Ausstellungswerken den wohl stärksten optischen Gegensatz zu der Wirklichkeit des Lagers. Thematisch überwiegen unter den erhalten gebliebenen Zeichnungen die Portraits, wobei Häftlinge wie Louis Asscher oder Siegfried Emmering, Leo Szenkier oder Rene Baumer auf die Darstellung des Lagerhintergrunds verzichteten, den Gesichtern der Menschen ihren unverwechselbaren Ausdruck schenkten und sie nicht im Sinne der Nazis als entindividualisierte, würdelose und innerlich zerbrochene Opfer des Terrors zu Papier brachten.
Unter Lebensgefahr verzichteten Künstler auf die Darstellung von Gewalt durch die Nazis
Oft opferten die KZ-Insassen Teile ihrer kargen Lebensmittelration, um Farbe daraus herzustellen oder sie gegen Malutensilien einzutauschen. Auf Packpapier, SS-Formularen und Briefumschlägen wurde mit Bleistift, Nägeln und Kohle dokumentiert.
Wegen der damit verbundenen Lebensgefahr verzichteten viele Lager-Künstler auf die Darstellung der von der SS ausgehenden Gewalt. Gesichtszüge der Porträtierten spiegeln das Lagerleben selten wider, und Darstellungen von Wachtürmen, Baracken und Zäunen sind gekennzeichnet von einer seltsamen Menschenleere der davorliegenden Appellplätze.
Eine Gruppe von Kindern, von Louis Asscher dargestellt, wendet dem Betrachter den Rücken zu. –Die Beziehungslosigkeit und Distanz zu der Enge und Überfüllung des Lagers und der ununterbrochenden Zwangsgemeinschaft“, sagt Thomas Rahe, der die Ausstellung konzipierte. Die Bilder umschreiben Unterdrückung und Demütigung und zeigen die Orte des Leidens, nicht aber das Leiden selbst.
Zsuzsa Merenyi, 1925 in Wuppertal geboren und nach dem Krieg herausragendste Ballettmeisterin Ungarns, hat die meisten Zeichnungen aus Bergen-Belsen gefertigt. Für ihre Mutter zeichnete die 19jährige oft mit Galgenhumor eine Lager-Bildmappe, die –nichts Tragisches“ enthalten sollte: so die Röntgenaufnahme ihres fast leeren Magens oder den Autobus mit der Aufschrift –Bergen-Budapest“. Marianne Hermann, Leon Delarbre und Istvan Irsai haben mit ihren Bildern ebenfalls ihren Mithäftlingen eine Geste von Mitmenschlichkeit gezeigt; denn um die Bilder konnte nicht wie um Brot gestritten werden.
–Die Zeichnungen sind ein Versuch, in Chiffren und Symbolen das bildhaft dazustellen, wofür es keine Begriffe mehr gab“, sagt Bundesratsminister Jürgen Trittin über die Ausstellung. Initiator Thomas Rahe indes bereitet schon den nächsten Schritt vor. Er spürt weltweit Bildwerke von ehemaligen Häftlingen auf, die diese erst Jahre nach den traumatischen Erfahrungen, inmitten von Alpträumen und immer wieder neuen Versuchen der Verarbeitung, zustandegebracht haben.
Karin Toben, dpa
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