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Literatur ist Bewegung

■ Ortsbesichtigung: Das Bertolt-Brecht-Haus in der Chausseestraße

Links, unter der Erde des Dorotheenstädtischen Friedhofs, liegt Bertolt Brecht, der Namensgeber. Neben ihm seine Frau, die Schauspielerin Helene Weigel. Im Keller wird nach ihren Rezepten gekocht: wienerisch, wofür die Weigel bekannt war. Hinten, in Brechts und Weigels letzten Wohnräumen, sind eine Gedenkstätte und das Archiv.

Vorne, zur Straße hin, Buchladen, Saal und Galerie, darin eine Stiege zur Kellerkneipe und eine Wendeltreppe, über der steht: „Die Diskussion ist eine der höchsten Stufen des Kunstgenusses, welche die Gesellschaft erklimmen kann. Brecht 1939“. Chausseestraße 125, Berlin-Mitte: Hier ist das „Literaturforum“. Brechts Zitat war schon zu DDR-Zeiten angebracht worden. Anlaß zum Erklimmen dieser Wendeltreppe bietet das Literaturforum aber heute mehr denn je – mehr noch, es will verführen zu metropolitanen Pirouetten...

Immer in den letzten vier Jahrzehnten trafen sich hier Literaten und Künstler, seit Bert Brecht 1953 in das Mietshaus eingezogen war, als nach Brechts Tod Helene Weigel hier seinen Nachlaß verwaltete, in den Jahren nach 1978, als das „Brecht-Zentrum“ eingerichtet wurde. Aber so offen und quirlig war es hier nie zugegangen wie jetzt nach dem Fall der Mauer.

Das gesamte Programm dieses Halbjahres steht unter dem Motto „Zwischen den Zeiten, zwischen den Welten“. Was zu Ende gegangen ist, eine Welt aus Illusionen, so Inge Gellert, seit 1991 Leiterin des Literaturforums, hat einen Neuanfang ermöglicht. Einen Neuanfang, aus dem nicht nur sie und ihre fünf MitarbeiterInnen in vollen Zügen schöpfen, sondern aus dem die neue Konzeption des Literaturforums lebt und ihre Berechtigung zieht.

Die verschluckte DDR-Szene, das vermeintliche Kaninchen, entpuppt sich als Igel und tanzt sich frei im neuen Diskurs der (erträumten) Metropole. Der poetische Titel „Zwischen den Zeiten, zwischen den Welten“ meint Stadt-Mitte als Treffpunkt der Welt, das Gemisch der Strömungen, Sprachen und Halbsätze, die hier zusammenkommen. „Die treffen manchmal mit dem Faustschlag aufeinander, aber es gibt die Möglichkeit, über die Sprache Kommunikation herzustellen“, benennt Inge Gellert ihren Ansatzpunkt, multimediale Literaturarbeit, die Suche nach Anregungen zwischen den verschiedenen Künsten, die gleichermaßen technische Möglichkeiten einbezieht wie Anregungen aus vortechnischer Zeit, etwa Tai Chi oder tänzerische Körperbewegung. „Das ist“, so Gellert, „die heutige Zeit: Mystik und Technikgläubigkeit. Und alles konträr, die Leute gehen aufeinander los, in dieser Stadt oder in Jugoslawien. Diesem Ausdruck des Zeitgeistes möchte ich begegnen über das Medium Sprache in der Form, wie ich sie bei Brecht gelernt habe: heutiges Rindfleisch für Leute, die heutiges Rindfleisch essen.“

Das Anknüpfen an der Gegenwärtigkeit mag schnellebige, auch oberflächliche Produktionen befördern. Aber nach Hölderlins Motto „Wenn das Leben Bewegung ist, ist Festhalten schlimmer noch als der Tod“ wird mit Spaß und Verve ein Programm mit unverwechselbarer Handschrift produziert. Inge Gellert, die „Performance“, wie sie sich nennt – Philosophin ist sie von Haus aus – personifiziert den Enthusiasmus der Macherin. Ihr Konzept – oder ihren Traum – für das Haus hat sie in einem Gedicht ausgedrückt, in dem es heißt: „Ist Schönheit schön, wenn sie bis zum Hals / in Jauche steht? ... Sehnsucht kommt / fliegt auch davon.“ Die „ewige Suche nach dem Glück“ war Thema der Brecht-Tage 93. Eine experimentelle Collage verschiedener Künste improvisierte die Stimmung nach dem Verlust der Illusionen. Während zu früheren Brecht-Geburtstagen eine germanistische Konferenz abgehalten wurde, zog das Literaturforum 1993 eine imaginäre Linie, die „Höldlerlinie“, zum Tacheles in der Oranienburger Straße.

Eine ganze Veranstaltungsreihe antwortet auf die Sprachlosigkeit im Ost-West-Dialog. Angesichts der Verarmung der Sprache, beim Thema Stasi etwa, ist es „Zeit für eine poetische Begegnung. Hier sitzt man mittendrin und auf einem Tableau: theoretisieren und erleben. Wir machen draus ein städtisches Environment, das Musik, Dichtung, Philosophie und Körperbewegung integriert.“

Der Versuch, mit Kunst aufklärend (oder kommunikationsfördernd) einzugreifen, wird durchaus selbstironisch gebrochen, wie das zu den Brecht-Tagen erschienene satirische „Handbuch der Gemeinschaftspraxis Herz-Schmerz-Glück“ belegt. Neben der Ost-West-Reihe zur neuen innerdeutschen Abgrenzung steht die Reihe „lieblos“, wo Autoren aus aller Welt, zuletzt Teresa Ruiz Rosas und Ewa Boura, sich mit sprachlichen Aspekten von Rassismus auseinandersetzen.

Eine andere Reihe beschäftigt sich mit Formen der Gewalt: Krieg, Vergewaltigung, Gettoisierung, Gewalt in Liebesbeziehungen. Nicht berühmte Namen dominieren das Programm, sondern der thematische Zugriff. Zu jedem Thema korrelieren Ausstellungen: Im kleinen Saal bis Ende Juni „Gebrochenes Glas“, Bilder des jugoslawischen Künstlers Goran Duzevic, oder in der „Bildertenne“, dem Durchgang zum Hinterhof, wo übrigens ein idyllischer Biergarten lockt.

Stand zu DDR-Zeiten das Brecht-Zentrum ganz im Dienste der Rezeption und Popularisierung Brechts, kommt heute der „Klassiker“ im Vorderhaus nur noch selten selbst zu Wort. Ganz anders im Hinterhaus. Hier lebt, über Jahrzehnte konserviert, die Arbeitsatmosphäre des Meisters. Hier lagert der größte Teil von Brechts Handschriften, Kappe und Stock hängen noch am Haken, in der Hegel-Ausgabe im Arbeitszimmer finden wir Bert Brechts Zettelchen und Anstreichungen.

Hier wird katalogisiert und konserviert, werden Quellen gesucht und belegt, wissenschaftliche und andere Benutzerfragen beantwortet (um die häufigste gleich zu beantworten: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ ist kein Brecht-Zitat!). Das wissenschaftliche Interesse an Brecht ist ungebrochen, betont Erdmut Wizisla, der Leiter des Archivs. Die Befreiung von systempolitisch bedingter wissenschaftlicher Taktiererei und die Öffnung neuer (zum Beispiel Partei-)Archive haben der Forschung neue Impulse verliehen. Kopfzerbrechen macht Wizisla der renovierungs- und schutzbedürftige Zustand von Wohnung und Exponaten, insbesondere Brechts umfangreichem Bibliotheksbestand. Sollen die Originale unverändert, museal, erhalten werden oder weiterhin für Forschungszwecke nutzbar bleiben?

Hinten geheiligte Ruhe und Konzentriertheit, vorne Erlebnis und Performance. Während Inge Gellert unter der „Hölderlinie“ die Sichtbarmachung des neuen Schnittpunktes von Hoch- und Subkultur versteht, konnten die Brecht-Erben darin keine „ordnungsgemäße Verwertung des Brecht-Namens“ erkennen und untersagten die weitere Verwendung des Namens „Brecht-Zentrum“.

Die neue Bezeichnung „Literaturforum im Brecht-Haus“ ist denn auch treffender. Sie macht deutlich, daß das Forum von Archiv und Gedenkstätte organisatorisch unabhängig ist – das Forum wird über einen unabhängigen Trägerverein vom Senat finanziert, Archiv und Gedenkstätte sind der Akademie der Künste zugeordnet.

Archiv und Gedenkstätte sind die eigentlichen (und historischen) Orte für die Brecht-Forschung und -Erinnerung. Das Literaturforum betreibt Brecht-Rezeption, insofern es Gegenwartsbezogenheit in gegenwärtigen dichterischen Prozessen fördert. Einer der literarischsten Orte der Stadt, will man in Literatur einen Teil und nicht nur das papierne Abbild des Lebens sehen. Stefan Bruns

Im Brecht-Haus, Chausseestraße 125, 1040 Berlin, sind zu finden: das „Literaturforum im Brecht- Haus“, Eintritt immer frei!, Info- Telefon: 282 20 03; die Brecht- Weigel-Gedenkstätte; das Bertolt- Brecht-Archiv.

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