■ Kohl kann sich eine doppelte Staatsbürgerschaft vorstellen: Konservative ohne Wurzeln
Schlecht war der Zeitpunkt nicht gewählt: Zu Beginn der Woche mit der entscheidenden Debatte über das Asylrecht signalisiert Helmut Kohl Beweglichkeit in der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft. Er tut dies in der Türkei, in einem Interview, während in Bonn die Versuche des SPD-Fraktionsvorsitzenden um Nachbesserungen des ausgehandelten „Kompromisses“ auf granitene Ablehnung stoßen. So verrückt könnte die politische Welt sich drehen, daß ausgerechnet die türkische Regierung, die selbst äußerst spröde in der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft ist, dem Bundeskanzler etwas abgetrotzt hätte, was die SPD in den entscheidenden Verhandlungen entweder vergaß oder doch durchzusetzen versäumte. Da möchte man doch ausrufen: Der Mann reist zu wenig!
Der Anfang zu etwas Neuem ist also signalisiert, aber die Chance zur großen Verblüffung der Öffentlichkeit und zur ganz großen Verwirrung in der Opposition wurde trotzdem vertan. Zu ängstlich ist der Vorschlag, an zu viele Bedingungen geknüpft, als daß er wirklich etwas bewegen könnte. Nur hier geborene AusländerInnen kommen überhaupt dafür in Betracht, darunter offensichtlich nur diejenigen türkischer Nationalität. Einzig für die Zeit von fünf Jahren wird ihnen die Kostbarkeit der doppelten Staatsbürgerschaft gewährt, sozusagen als Schnupperangebot, dann aber müssen sie sich definitiv entscheiden. Sie gewinnen oder verlieren danach endgültig eine der Identitäten, die doch in ihrer Biographie gleichzeitig da ist und nicht willkürlich gelöscht werden kann: die Zugehörigkeit zu zwei Kulturen und Traditionen. Der Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, der CDU-Abgeordnete Thomas Kossendey, hat denn auch den Kohl-Vorschlag deutlich interpretiert: Die fünf Jahre sollten als „Findungsphase“ verstanden werden, wo sich die Familien „über ihre Trennung von ihrem Herkunftsland klar werden“ müßten; sie hätten damit die „Chance, aus ihrer Staatsbürgerschaft, aus ihrer kulturellen Identität, wenn sie es denn wollen, herauszuwachsen“. Und wenn sie gerade das nicht wollen, weil es unauflöslich mit ihrem Schicksal verbunden ist? Antwort: „Wir können nicht auf Dauer eine doppelte Staatsbürgerschaft hinnehmen. Das würde letztendlich zu einer Rosinenpickerei führen.“
Damit ist die ganze miefige Enge wieder drin in der Debatte, der alte Nationenbegriff wird erneut ins Recht gesetzt, die alte Ignoranz und Respektlosigkeit gegenüber fremden Kulturen ist ungebrochen. Die mobile Gesellschaft schmeißt viel hinter sich, und solche Leichtfertigkeit fordert sie auch von allen ihren Mitgliedern, besonders von den NeubürgerInnen. Schade, daß es keine Konservativen mehr bei den Konservativen gibt, die wissen, daß der Mensch Wurzeln braucht. Antje Vollmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen