: Nichts Nennenswertes
■ Andrea Breth inszenierte Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ in Grund und Bühnenboden
Wenn sich die Gazewand hebt, sehen wir einen tristen Ort: das Innere einer Bank. Hinter dem Schalter kauert eine kümmerliche Kreatur: der Kassierer. Georg Kaisers Stück erzählt, wie diese geduckte Existenz einen Ausbruchsversuch wagt, die Bank um die Kasse erleichtert und doch kein neues Leben findet: keine Ekstasen und keine Erlösung, nur etwas Lärm und Verzweiflung: „Morgens noch am Schalter sitzend, mitternachts das Hirn verspritzend...“, notierte Alfred Kerr zur Berliner Erstaufführung im Jahre 1919. Andrea Breth macht aus dem selten gespielten expressionistischen Klassiker an der Berliner Schaubühne eine so aufwendig-pompöse wie nichtssagende Mischung aus Karneval und Weihespiel, Jahrmarkt und metaphysischem Kitsch. Das Witzchen, das sich die Regisseurin um ihren unerreichten Vorgänger erlaubt, gibt dem schalen Geschmack dieser Inszenierung die rechte Würze: „Stein ist, doch was ist außer Stein“, rezitiert eine der unglücklichen Gestalten des Spektakels. Spätestens bei diesem peinlichen Kalauer denkt man voller Heimweh (jawohl: Heimweh!) an die Jahre zurück, als Stein noch an diesem Hause war. Nach ihm kam an diesem Abend: nichts Nennenswertes.
Dabei fängt alles so schön an: In den ersten fünfzehn Minuten verläßt sich die Regisseurin auf ihre überragende Fähigkeit, realistische Szenen dezent zu verzerren. Fast alle Figuren tragen Halbmasken, der Bankdirektor nuschelt sächsisch, die Bühne (Gisbert Jäckel) kommt mit einigen Versatzstücken aus: Diese Bürger kommen aus einem Totenreich. Als eine so schöne wie undurchsichtige Dame den Raum betritt, kommen die Bürgerphantasien in Gang: Monte Carlo! Abenteuer! „Wie die Orangen blühn – blüht auch der Betrug!“ Eine Hochstaplerin: Beim zweiten Auftritt der Dame ist der Kassierer allein mit ihr, und als sie ihn bittet, ihr beim Schließen des Diamantarmbandes behilflich zu sein, ist es um ihn geschehen: in dem kleinen Bürokraten erwacht die Gier nach Leben und Weite. Die Dame (Corinna Kirchhoff) schwebt aus dem Kontor, und der Mann an der Kasse (Peter Simonischek) reckt den Kopf aus seinem Verschlag, der ihm zu eng geworden ist: der Griff in die Kasse und die Flucht sind unvermeidbar. Seine kleine Welt löst sich auf, und die Bühne bricht auseinander: Kassenhäuschen und Tresen schweben durch den Raum, bis nichts mehr übrig bleibt von der Bank und vom kleinbürgerlichen Elend.
Doch das Kleinbürgerelend hat kein Ende; dafür beginnt jetzt in voller Pracht das Bühnenelend: Andrea Breth baut ein großes Bild nach dem nächsten, die Bühnenmaschinerie ächzt, zwei Drehbühnen wirbeln die Figuren durch den Raum: Die Direktion hat weder Kosten noch Mühen gescheut, und die ganze Wunderwelt des Theaters (die an diesem Haus noch ein bißchen raffinierter und ein bißchen prächtiger, ein bißchen perfekter und ein bißchen feierlicher ist als andernorts) setzt sich in Gang, daß es eine Freude sein könnte – wenn all der Zauber mehr wäre als ein pompöser Selbstzweck: das Theater läßt die Muskeln spielen, zu erzählen hat es nichts. Mal versucht Andrea Breth, das polnische Genie Tadeusz Kantor zu kopieren (ohne dessen Härte zu erreichen), mal stellt sie eine billige Ausgabe des Genrebildes „Roaring Twenties“ auf die Bühne (perfekt und altbacken). Aber all das kunterbunte oder wahlweise düster schwarz- weiße Treiben vermag nicht das angestaubte Stück Expressionismus in die Gegenwart zu holen: technisch durchaus beeindruckend, inhaltlich durchaus belanglos. Wie der entlaufene Kleinbürger weder beim Sechstagerennen noch im Bumslokal auf seine Kosten und aus dem geduckten Leben herauskommt, wie seine Ausbrüche und Aufbrüche elend scheitern und wie er am Ende selbst von der Heilsarmee enttäuscht wird, das rollte prächtig aufgetakelt vorm Zuschauer ab, ohne ihn zu erreichen: totes Theater. Immerhin ist die Leiche schön bunt, und billig war sie sicher auch nicht. Pl
Georg Kaiser: „Von morgens bis mitternachts“. Regie: Andrea Breth. Bühne: Gisbert Jäckel. Mit: Peter Simonischek, Ernst Stötzner, Werner Rehm, Libgart Schwarz u.a.; Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. Nächste Vorstellungen: 26., 27. und 31. Mai
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