: Die Wiederkehr der Tuberkeln
Die arzneimittelresistente Tuberkulose hat sich in den letzten Jahren dramatisch ausgebreitet / Ärzte sind hilflos gegen die neuen Erreger ■ Von Manfred Kriener
Das Schlußwort war ernüchternd: „Wenn selbst wir, mit all unseren Möglichkeiten, gerade 60 Prozent solcher Patienten erfolgreich behandeln können, wie wird es dann unter weniger idealen Umständen aussehen?“ Die Ärzte vom „National Jewish Center für Immunologie, Lungen- und Atemwegserkrankungen“ in Denver hatten zuvor über die komplizierte und risikoreiche Therapie einer „unheilvollen und tödlichen Krankheit“ berichtet: über die arzneiresistente Tuberkulose. Immer häufiger entwickelt der TB-Erreger „Mycobacterium tuberculosis“ Mutanten, die den Dauerbeschuß mit hochwirksamen Arzneimitteln überleben. Eine neue Runde im Kampf mit einer alten Krankheit hat begonnen. „Die Ausbreitung der resistenten Tuberkulose“, warnt Kevin De Cock vom US- Center for Disease Control, „ist eines der wichtigsten Ereignisse der jüngsten Medizingeschichte“.
Um die Jahrhundertwende gehörte die Tuberkulose zu den häufigsten Todesursachen. Noch vor 100 Jahren starb jeder dritte Deutsche an TB. Lange bevor ein therapeutischer Durchbruch erzielt wurde, führte die allmähliche Verbesserung der materiellen und sozialen Lebensumstände zu einem starken Rückgang der Tuberkulose. In den 40er Jahren wurde dann mit der Entwicklung der Antibiotika-Behandlung ein weiterer grundlegender Erfolg zur Eindämmung der Krankheit erzielt. Als Folge der neuen Medikamente und des wachsenden Wohlstands gingen nach dem Krieg die TB- Zahlen rapide zurück.
Doch spätestens in den 80er Jahren kehrte sich der Trend um. Nachlassende Verhütungsprogramme, wachsende Armut in vielen Regionen der Welt und vor allem die Aids-Epidemie haben die Ausbreitung der Tuberkulose beschleunigt. Heute sind nach WHO-Schätzungen etwa 1,7 Milliarden Menschen mit dem TB-Erreger infiziert, beinahe jeder dritte Erdbewohner. Drei Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Tuberkulose. Zum Vergleich: Der Immunschwäche Aids sind bisher insgesamt etwa eine Million Menschen erlegen.
Die Infektion bedeutet noch keineswegs den Ausbruch der Tuberkulose: In neun von zehn Fällen wird das Bakterium von einem wachsamen Immunsystem lebenslänglich in Schach gehalten. Erst ein durch Hunger, Krankheit oder Alkoholismus geschwächter Organismus oder ein reduziertes Immunsystem lassen die Krankheit ausbrechen. Über Tröpfchen-Infektion, vor allem bei einem Hustenanfall, werden die gefährlichen Mikroben übertragen. Husten und Fieber sind auch die wichtigsten Symptome, die noch immer viel zu oft als Lungenentzündung falsch diagnostiziert werden.
Wird die TB erkannt und richtig behandelt, liegen die Heilungschancen bei 98 Prozent. So steht es zumindest in den meisten Wälzern der Medizinliteratur. Doch die zunehmenden Resistenzen gegen Arzneimittel haben die Erfolgsquote erheblich nach unten gedrückt.
In den 50er Jahren, als der Siegeszug der Tuberkulosetherapie begann, zeigten nur zwei Prozent der Kranken Resistenzerscheinungen. In den 80er Jahren ermittelten Mediziner schon neun Prozent Resistenzfälle. Anfang dieses Jahrzehnts stieg die Rate bereits auf 25 Prozent. Eine neue Untersuchung in New York, der Hauptstadt der amerikanischen TB-Epidemie, stellte jetzt fest, daß 33 Prozent der aus dem Auswurf von 518 Patienten gezüchteten Erreger gegen eines oder gegen mehrere der elf verfügbaren TB-Medikamente resistent waren.
Besonders alarmierend: Neben dem altbekannten Standardmittel „Isoniazid“ versagt offenbar auch das besonders wirksame, erst in den 70er Jahren entdeckte „Rifampin“ immer öfter. Sind die Erreger sowohl gegen Isoniazid als auch gegen Rifampin resistent, sind die Heilungschancen der Patienten „stark reduziert“, so das Denver-Ärzteteam.
Wie konnte es zu solch einer „Katastrophe“, so der Direktor der Internationalen Vereinigung gegen Tuberkulose, Karel Styblo, kommen? Für die dramatische Resistenz-Entwicklung ist nicht allein die Mutationsfähigkeit des Erregers verantwortlich, der nach jahrzehntelangem Antibiotikabeschuß das Überleben gelernt hat. Begünstigt wird sie auch durch eine oft falsche oder frühzeitig abgebrochene Therapie. Um den Erreger erfolgreich zu bekämpfen, müssen mindestens drei, meist vier Medikamente gleichzeitig gespritzt oder oral verabreicht werden.
Durch diesen geballten Einsatz wird das Bakterium mit verschiedenen Wirkstoffen gleichzeitig angegriffen. Tuberkel-Mutanten, die gegen das eine Mittel resistent sind, können so von einem anderen abgetötet werden – so die Hoffnung der Ärzte. Eine solche Parallelbehandlung ist vor allem dann erfolgreich, wenn die elf verfügbaren Medikamente zuvor im Labor am individuellen Erreger des einzelnen Patienten auf ihre Wirksamkeit durchgetestet werden. Ein langwieriges Verfahren.
Aber auch selbst die Behandlung mit mehreren toxischen, nebenwirkungsreichen Medikamenten ist langwierig. Sie zieht sich nicht nur über Monate, sondern manchmal über zwei Jahre hin. Erst dann, nach monatelangem Negativbefund, ist sichergestellt, daß keine Erreger überlebt haben. Das große Dilemma: Viele Patienten brechen die Therapie bereits ab, sobald die schlimmsten Krankheitssymptome verschwunden sind.
In armen Ländern, wo selbst die relativ billigen TB-Mittel nicht in ausreichender Menge verfügbar sind, ist die vorzeitige Beendigung der Behandlung oft unvermeidbar. Eine kurze, halbherzige Therapie ist aber schlimmer als gar keine: Dann überleben gerade die widerstandsfähigsten Erreger, die sich anschließend munter vermehren und die im zweiten Anlauf um so schwerer zu bekämpfen sind. In 70 Prozent aller Fälle, so eine Untersuchung des Denver-Teams, waren der verkürzte oder falsch verordnete Medikamenten-Einsatz für die Resistenz verantwortlich. Bei einer Kurzzeitbehandlung werden resistente Erreger geradezu „gezüchtet“, warnen Ärzte.daß es gewaltiger Anstrengungen bedarf, um mit der neuen Herausforderung der resistenten TB-Fälle fertigzuwerden. „Die Gesundheitsbehörden in allen Teilen der Welt haben gerade erst begonnen, das Phänomen zu dokumentieren“, schreibt Newsweek. Und die TB-Forschung ist nach den großen Erfolgen der Vergangenheit weltweit eingeschlafen. Neue Medikamente werden aber „dringend benötigt“, so die Forderung der Denver-Ärzte. Mit den verfügbaren Arzneien können im besten Fall 60 Prozent der resistenten Tuberkulosen geheilt werden.
Da stellt sich immer dringlicher die Frage, was mit den Kranken geschehen soll, die keinen Therapieerfolg zeigen. Viele sterben in den Kliniken, aber andere bleiben am Leben und tragen einen hochgefährlichen, weil resistenten und infektiösen Erreger spazieren. Für die Ärzte des National Jewish Center ist die dauerhafte Isolierung dieser Patienten für den Rest ihres Lebens die einzig mögliche Konsequenz. Ansteckungsgefährdet sind vor allem Ärzte und Pflegepersonal. Unter 171 Patienten mit resistenter TB, über die das Denver- Team jetzt berichtete, befanden sich auch zwei Krankenschwestern, die den Erreger bei Patienten eingefangen hatten.
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