: Mit Filmstars ohne Dior
Ein arte-Themenabend wandelt heute auf den Spuren der Nouvelle Vague ■ Von Gerhard Midding
Sie liebten nicht nur die Kamera, die Kamera liebte auch sie: den lispelnden Widerspruchsgeist Godard, den verschmitzten Chabrol, Truffaut, den verlegenen Gewinner der Goldenen Palme, der noch im Jahr zuvor die vernichtendsten Artikel über das Festival in Cannes geschrieben hatte, den seriösen Rohmer, den hintergründigen Rivette. Mit schüchternen Gesten und selbstbewußter Beredsamkeit stellen sie ihre Auffassung vom Kino dar, geschickte Interpreten ihrer eigenen Arbeit, die die Komplizenschaft der Fernsehkameras suchen.
Eine Erbengeneration wollten sie nicht sein, mit Papas Kino, der bieder-temperamentlosen „Tradition der Qualität“ wollten sie brechen. Die Nouvelle Vague? Eine Bande von Fanatikern, die sich nicht weniger vorgenommen hatte, als das Gesicht des Kinos zu verändern. Da half es sehr, wie sich Chabrol erinnert, daß sie davon überzeugt waren, Genies zu sein. Es brannte den ehemaligen Kritikern in den Fingern, die politique des auteurs, die ihre polemischen Artikel beflügelt hatte, in eine Realpolitik der Regisseure umzusetzen. Die Regieaufträge erhielten sie nicht selten von Produzenten, die sie zuvor aufs übelste beschimpft hatten. Jeder filmische Gehversuch eine Wette gegen das eigene Herzklopfen, gegen die technischen Probleme und die landläufigen Erzählkonventionen. Auf den Straßen wollten sie drehen, mitten unter den Leuten, mit kleinem Budget. Wenn das Geld nicht für einen Kamerawagen reichte, gaben sie sich auch mit einem geliehenen Rollstuhl zufrieden.
Eine ausgelassenere, unkonventionellere Art des Filmemachens hatte begonnen. Jean Seberg, die von ihrem Entdecker Otto Preminger in Hollywood eine drakonischere Schauspielerführung gewohnt war, traute Godard, ihrem Regisseur, bei „A Bout De Souffle“ nicht recht über den Weg: Wie konnte der ein Profi sein, wenn er die Dreharbeiten an manchen Tagen schon nach einer Viertelstunde abbrach, weil ihm die Ideen ausgingen? Und um die Dior-Robe, die ihr als Star zugesagt worden war, wurde sie ohnehin betrogen; statt dessen steckte Godard sie in einen Pulli aus dem Sonderangebot von Prisunic.
Es war eher die Art des Filmemachens, die sie alle verband, nicht eine gemeinsame Ästhetik. Und natürlich ihre Jugend. Truffauts Beschreibung der Nouvelle Vague trifft den Kern, wenn er sagt, sie habe in ein Metier, in dem es traditionell nur zwei Generationen gab, eine dritte eingeführt: die der Regisseure um die dreißig. (Historisch stimmt das freilich nicht, denn auch René Clair, Jean Vigo und Jean Renoir hatten vor ihrem 30. Geburtstag debütiert.)
Die neue Welle war keine Schule, sondern eine spontane Bewegung. „Die Nouvelle Vague gibt es nicht!“ ist einer der Sätze, die an diesem Themenabend am häufigsten zu hören sind. Claude Ventura hat ihn für arte konzipiert; bis vor zwei Jahren war er für das wahrscheinlich aufregendste Filmmagazin im Fernsehen, „Cinéma, Cinéma“ auf Antenne 2, mitverantwortlich. 1959 legt er als die Stunde Null fest, das Jahr, in dem Truffauts „Les 400 Coups“ („Sie küßten und sie schlugen ihn“) in Cannes reüssierte und Godard „A Bout de Souffle“ („Außer Atem“) drehte. Ventura begibt sich auf die Suche nach den Schauplätzen von Godards Film, folgt dabei offensichtlichen Spuren, befragt Zeitzeugen, nein, besser: Komplizen, aber auch entlegeneren Fährten, reist nach Genf, Godards Geburtsort, und entdeckt bei anderen Recherchen in Paul Gégauff, dem mysteriösen Ko-Autor etlicher Chabrol-Filme, ein entscheidendes Vorbild für die Belmondo-Figur. Es ist auch eine melancholische Spurensuche, denn das Hôtel de Suède, in dessen Zimmer 12 sich Seberg und Belmondo liebten, soll am letzten Drehtag abgerissen werden. Danach wird es nur noch auf der Leinwand existieren.
Unter dem Titel „Nouvelle Vague, 2 oder 3 Dinge...“ montiert Ventura Interviews und Filmauszüge. Vieles gibt es da zu entdecken: daß in Jean-Pierre Léauds Schüchternheit, seiner forschen Spontaneität, seinem kindlichen Liebäugeln mit der Kamera beim ersten Vorsprechen schon dessen ganze Leinwandpräsenz aufblitzt; daß Godard nach seinem ersten Film gemerkt hat, daß er das Kino nicht mehr so sehr liebt wie zuvor; daß die neuen Stars Belmondo, Brialy und Cassel sich selbst nicht als schön bezeichnen würden, aber trotzdem zufrieden sind; daß in Nouvelle-Vague-Filmen mehr Leute zu Fuß gehen als in anderen Filmen und daß Rivette listig genug ist, den Vorwurf eines Journalisten, er und seine Freunde hätten in letzter Zeit nur Mißerfolge produziert, ins Gegenteil zu wenden: Genau darin läge ja der Triumph der Nouvelle Vague, daß sie auf Pleiten nicht verzichten könne!
Leider blendet Ventura die Entwicklung nach der reichlich abrupten Politisierung der Regisseure im Mai 68 aus, bemüht lediglich Godard als dubiosen Kronzeugen, der 1985 den Niedergang der Bewegung attestiert. Daß er jedoch Jacques Roziers Regiedebüt „Adieu Philippine“ als Abschluß des Abends wählt, entschädigt für vieles; Roziers wenig bekannter Film folgt den Prinzipien der Nouvelle Vague mit äußerster Konsequenz. An Originalschauplätzen mit unerfahrenen Darstellern gedreht, mit Dialogen, die von unbändiger Improvisationslust künden, mit einer sprunghaften Handlungsführung, die die Ausgelassenheit und Spontaneität der Bewegung offenbart, dabei aber doch ein Ausnahmefilm: einer der wenigen Beiträge der Novuelle Vague, der sich tatsächlich für das politische Klima seiner Entstehungszeit, der Fünften Republik im Zeichen des Algerienkrieges, interessiert.
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