: Vaterverletzungen — unauslöschbar
■ „Tätowierung“ — Vergewaltigung in der Familie / Premiere im Jungen Theater
Alltag in einer ganz normalen Familie: Ein strenger Vater, eine neurotische Mutter, zwei halbwüchsige, zänkische Töchter. Aber der Schein trügt: Der Vater mißbraucht die ältere Anita. Premiere des Jungen Theaters mit „Tätowierung“ von Dea Loher.
Anita wird erwachsen und ein bißchen rebellisch. Sie beginnt Gegenleistungen vom Vater zu fordern: „Morgen abend Kino und zwanzig Mark extra.“ Und sie lernt Paul kennen, der sie mit Zärtlichkeit von ihrer Berührungsangst befreien will. Sie geht mit ihm weg von zu Hause, aber schon die Eröffnung, daß sie schwanger ist und nicht weiß von wem, bringt erste Zerwürfnisse. Schließlich kommt bei Anita die alte Angst wieder hoch, und sie schläft nicht mehr mit Paul. Die Verletzungen durch den Vater sind lebenslänglich, eben unauslöschbar wie eine Tätowierung.
Auf weißem Boden stehen vier weiße Stühle und ein weißer Tisch. Weiße Neonröhren beleuchten das asketische Intorieur. Steril wie die Bühnenausstattung agieren auch über weite Strecke die beiden Hauptpersonen, der Vater (Lutz Gajewski) und Anita (Judica Albrecht).
Gajewski löscht durch seine Steifheit in Sprache und Körper die im Text enthaltenen Untertöne aus und damit sein Spiel zwischen zwischen scheinbar verantwortungsvollem Familienoberhaupt und sadistischer Machtausübung gegenüber seiner Tochter. Judica Albrecht nutzt nicht überzeugend die Möglichkeiten, die bei Anita durch Schuldgefühle und Angst ausgelöste seelische Zerstörung körperlich ausdrücken.
Dankbar wirkt dagegen die Rolle der verrückten und nichtsahnenden Mutter, Hund-Jule genannt (Ute Bries): Sie arbeitet in einem Hundesalon, flüchtet sich in einen Hundewahn und kauert blöde jaulend am Boden. Lulu (Julia Schöb), spielt ihren jugendlichen Frohsinn und Zorn erfrischend aus. Aber auch ihr (die dann als Lulu selbst Opfer des Vaters wird) liegt das tragische Fach nicht unbedingt. Gekonnte Verzweiflungsschreie können die leisen Töne nicht ersetzen. Flower- Paul (Christoph Backes), der rettende Liebhaber und zärtliche Lichtblick zwischen den düsteren Abgründen bringt Komik ins Spiel — gewollt und leider zuweilen auch ungewollt. Uneingeschränkt schön und verdächtig echt: wie Anita und Paul sich vorsichtig näherkommen und dann immer leidenschaftlicher lieben.
Ein Lehrstück? Die Aufführung löste im Publikum offensichtlich Betroffenheit aus. Der Applaus setzte erst nach langen Sekunden knisternder Stille ein. Beate Ramm
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