: Die Krönung des Narren
Mit 1:0 gewann Olympique Marseille gegen einen ziemlich indisponierten AC Mailand den europäischen Landesmeister-Cup ■ Aus München Peter Unfried
Es ging zügig auf Mitternacht zu, und Bernard Tapie, der größte Sieger des Abends, war längst weg, als der etwas eigentümlich wirkende Mann mit den gefärbten, wild abstehenden Haaren in den Katakomben des Münchener Olympiastadions endlich auch in das allerletzte Mikrophon geschnarrt, seinen tausendsten Schlag auf die Schulter überstanden, die erstbeste Frage zum weißderteufelwievielten Mal beantwortet hatte. Nur die Zigarette, die hing Raymond Goethals, Trainer von Olympique Marseille, noch immer schräg nach unten mitten aus dem Gesicht. Und siehe: Der Mann wirkte so richtig geschafft.
Was kein Wunder war. Erstens hatte die völlig euphorisierte Journaille francaise ihn seit Stunden von einer Ecke in die andere gedrängt, zweitens war dies wohl sein letztes großes Spiel, daß er folgerichtig drittens genoß, bis nichts mehr ging. Und viertens sieht er immer so aus. Fast schon im Aufzug runter in die Kabinen, ließ er die Zigarette rauf- und runterrutschen, und erzählte die ganze Geschichte noch einmal. Wie er, der Pensionär, Watschenmann von Tapies (Un)Gnaden, den großen AC Milan geleimt hatte. „Ich habe“, krähte der 71jährige, „Milan mit unserer sehr guten Taktik geschlagen.“ Dieser, Kippe rauf, Kippe runter, nämlich: „Wir haben die Abseitsfalle angewandt und hohe Bälle nach vorne gespielt.“ Alles so einfach! Entweder hoch die Hand oder einfach wumm!
Was dieser Sieg nun wert ist, darüber gibt es keinerlei Unklarheiten. OM und der französische Clubfußball haben nie einen wichtigeren errungen. Doch was das Spiel der beiden besten Mannschaften Europas hergegeben hatte, darüber herrschte auch im nachhinein relative Unsicherheit. So stand etwa der 2,8-Abiturient Thomas Helmer droben auf der Tribüne mit seiner Vermutung nicht allein, daß die Italiener zwar wohl die Besseren gewesen seien, was nicht bedeuten sollte, daß Marseille schlechter war.
Tatsächlich hatte Milan-Coach Fabio Capello die besseren Fußballer auflaufen lassen, was aber eigentlich niemand verwundern konnte, schließlich hat er die weit und breit besten zur Verfügung. Und die zeigten das auch punktuell, etwa mit einer Körpertäuschung von Marco van Basten, die im Fünfmeterraum ganz Marseille auf den falschen Fuß stellte, oder einer Annahme eines Vierzigmeterpasses, mit der Gianluigi Lentini in derselben Bewegung auch gleich Gegenspieler Eydelie umkurvte. Doch die eigentliche Stärke Milans, die Einbindung der spielentscheidenden Versatzstücke in ein ausgeklügeltes Kollektiv, die stimmte an diesem Tag nicht.
Es ist ja nun nicht so, daß die Mailänder die Grundsätze des Fußballspiels auf den Kopf gestellt hätten, sie haben sie nur perfektioniert. Nur waren die Besten, die der Clubbesitzer und TV-Mogul Silvio Berlusconi eigens zu dem Zweck der absoluten Gewinngarantie zusammengeholt hat, als es galt, nicht in der Lage, Perfektion abzuliefern.
Da mochte ihr Komponist Fabio Capello noch so abwehren, beteuern, nichts, gar nichts habe heute seiner Mannschaft gefehlt, auch nicht die Chancen, die Rede wirkte so matt, wie zuvor Milan auf dem Münchener Rasen. Zum ersten Mal verspürt Capello, 46, nun in Mailand Gegenwind. Der noch heftiger werden könnte, wenn Berlusconi anfängt, über des Trainers Erklärungen nachzudenken. Denn auf die Frage, was sich bei Milan in Zukunft ändern müsse, fiel Capello, völlig richtig und glänzend analysiert dann doch noch, „der körperliche Zustand“ ein. Seit Wochen in der Serie A im Abwind, das hat sich nun nicht als halbmotoriges Einspielen für das wichtigste Spiel des Jahres herausgestellt, sondern als Trend und Planungsdefizit. Und wer ist für die Planung, wer für Defizite verantwortlich? Fabio, wer sonst!
Klar, was der Verlierer stets vermißt, habe auch Milan gefehlt, wußte Capello. Das Glück. Weniger im Spiel, allerdings, als davor: Van Basten nicht richtig fit, Papin gerade erst beim Genesen, Rijkaard noch nicht wieder in Tritt? Letzterer stieg nicht zufällig beim einzigen Tor des Abends mit OM- Liberomanndecker Boli zum Kopfball hoch, doch nicht er, sondern wieder letzterer traf den Ball.
Alle Indizien zusammengefaßt, und dreimal geschüttelt, ist es, heureka, folglich so gewesen: „Das Milan-Spiel kam nie richtig auf Touren“ (Thomas Helmer), weil der Vorsprung durch Technik an diesem Tag wegen physischer Gebrechen nicht ausreichte, um ein immerhin auch überdurchschnittlich besetztes OM zu mehr Fehlern zu zwingen, als man selbst machte. Und daß Marseille am Spiel kaum mehr interessiert war, nachdem an der Anzeigentafel die „1“ aufgeleuchtet war? Branchenüblich, speziell gegen einen Gegner, der „so gut ist, daß man eben nicht alles umsetzen kann, was man sich vornimmt.“ Dies sagte Rudi Völler, Tapies deutscher Söldner.
Und der ehemalige Herr der drei Streifen und neue König des Kontinents lächelte neureich und deklamierte: „Das war das größte Spiel gegen den größten Gegner.“ Und klopfte seinem Narren Goethals kräftig auf den Rücken und hieß ihn dann für einen Abend den König geben. In zwei Wochen sitzt der Belgier schließlich bereits im Ohrensessel. Für Bernard Tapie aber fängt dann das richtig große Spiel, das Politik und Macht heißt, erst wieder neu und diesmal so richtig an.
Olympique Marseille: Barthez - Boli - Angloma (61. Durand), Desailly, Di Meco - Pele, Sauzee, Eydelie, Deschamps - Boksic, Völler (80. Thomas)
Zuschauer: 64.000; Tor: 0:1 Boli (44.)
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