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Trauer und Wut nach den Morden von Solingen

■ Nach den Morden von Solingen sind viele Berliner TürkInnen verunsichert / Aktionen werden diskutiert

Nach dem jüngsten Mordanschlag in Solingen, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen, herrscht unter den rund 137.000 türkischen Bewohnern Berlins Trauer, Wut, aber auch Ratlosigkeit. Wie die taz aus türkischen Kreisen erfuhr, werden derzeit mehrere Protestformen diskutiert: Sie reichen von einem Schulstreik türkischer Kinder, kurzfristigen Straßenblockaden, einem zweistündigen Streik der Gewerbetreibenden bis hin zu einem Boykott der Steuerzahlungen und der Aufforderung, Sparguthaben bei deutschen Banken zu kündigen.

Ob sich die verschiedenen und miteinander konkurrierenden türkischen Gruppen einigen werden, scheint zweifelhaft. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde zu Berlin TGB, Mustafa Turgut Cakmakoglu, sprach sich schon gestern gegen „spektakuläre Aktionen“ aus, mit der verschiedene Gruppen versuchten, die „Gesellschaft gegeneinander zu hetzen“. Konkretere Formen scheint bislang nur eine Großdemonstration anzunehmen, die von verschiedenen türkischen Organisationen für diese Woche geplant wird, wie Cakmakoglu gestern versicherte.

Der türkische Schriftsteller und ehemalige SFB-Fernsehmoderator Zafer Senoçak (30) sprach gestern gegenüber der taz von einer explosiven Stimmung unter den Berliner Türken. Gerade unter vielen jungen Türken sei die Wut groß. Wenn rechtsextreme Anschläge wie in Mölln und Solingen sich wiederholen sollten, „stehen wir am Rande von Krawallen wie in Los Angeles“. Aus Gesprächen mit türkischen Jugendlichen wisse er, daß viele „drauf und dran sind, gewalttätige Aktionen zu starten“.

Hart ging auch die türkische Presse in Berlin mit der deutschen Politik ins Gericht. Die auflagenstärkste und streng nationalistische Tageszeitung Hürriyet titelte gestern: „Vom türkischen Volk an Kohl: Stoppt diese Barbarei“. Die eher gemäßigte Milliyet machte gestern auf der ersten Seite mit einer deutschen Schlagzeile auf: „Es reicht.“

Bereits am Sonntag hatte das Blatt (Schlagzeile: „Deutsche Barbarei“) in einer Notiz auf der Titelseite die bundesdeutschen Politiker Kohl, Süssmuth, Genscher, Lambsdorff und Rau für die Morde von Solingen mitverantwortlich gemacht. Sie hätten den „Rassismus aufleben lassen“ und seien die „Verantwortlichen für diese Greuel“.

Die Morde in Solingen hatten am Wochenende in Berlin einige tausend Menschen auf die Straßen gebracht. In der Nacht zum Sonntag protestierten etwa 100 Personen in Kreuzberg. Bereits am späten Samstag nachmittag waren rund 4.500 Menschen spontan einem Aufruf des „Bundes der EinwanderInnen aus der Türkei“ (BETB) gefolgt und legten auf dem Ku'damm für einige Stunden den Verkehr weitgehend lahm. Nachdem der Demonstrationszug von der Gedächtniskirche zum Adenauerplatz und zurück gezogen war, wurde kurzfristig die Kreuzung vor dem Café Kranzler blockiert.

Im Gegensatz zu früheren Berliner Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit beteiligten sich diesmal auffallend viele türkische Jugendliche. In Sprechchören forderten die Demonstranten immer wieder „Schluß mit dem Terror“ und „Nazis raus“. Zu kleineren Auseinandersetzungen kam es schließlich in den Abendstunden rund um die Gedächtniskirche. Beim Versuch der Polizei – die sich merklich zurückhielt – den Tauentzien für den Verkehr frei zu machen, kam es zu Rangeleien. Vereinzelt flogen aus der Menge der Demonstranten unterhalb der Kirche auch Büchsen und Flaschen, die Polizei setzte schließlich Schlagstöcke ein und jagte Gruppen von Jugendlichen durch die Touristenströme über den Breitscheidplatz. Vier Personen wurden vorläufig festgenommen, einige Schaufensterscheiben am Olivaer Platz zerstört und PKWs beschädigt. Severin Weiland

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