■ Nach den Beileidsritualen von Solingen: Das Denken fängt im eigenen Kopf an
Die Geister, die sie riefen, jetzt werden sie sie nicht mehr los. Die Zauberlehrlinge in Bonn sind ratlos. Nun, wo doch alles erledigt ist, die Grundgesetzänderung unter Dach und Fach, warum da noch dieses häßliche Verbrechen in Solingen? Sicher, auch die Morde in Mölln hat in Bonn niemand gewollt, doch noch das Pogrom in Rostock wurde hemmungslos zum Volksaufstand uminterpretiert und für die eigenen politischen Ziele instrumentalisiert. War Solingen deshalb nicht auch ein Ergebnis einer politischen Woche, in der alle bürgerlichen Parteien sich gegenseitig für das Zustandekommen des sogenannten Asylkompromisses auf die Schultern klopften? Und ist es nicht beängstigend, wie prompt Neofaschisten auf ihre Art bekräftigt haben, was auch die hohe Politik signalisiert hat: Fremde sind hier nicht mehr erwünscht.
Ein Ministerpräsident Rau und ein Innenminister Seiters, die beide diesen Zusammenhang wortreich bestreiten und nicht einmal einen Hauch von Nachdenklichkeit über ihr eigenes Tun erkennen lassen, signalisieren damit nur eins: Nach den Toten in Mölln sind auch die Toten in Solingen noch kein Grund, die Heuchelei in den öffentlichen Beileidsbekundungen aufzugeben. Um endlich ernsthaft darüber zu diskutieren, warum in diesem Land Menschen ermordet werden, nur weil sie nicht Deutsche sind, wäre Selbstkritik die erste Voraussetzung.
Statt dessen praktizieren verantwortliche Politiker das Gegenteil, ihr Entsetzen kommt routiniert über die Bildschirme. Sicher, weiß Außenminister Kinkel, werden nun im Ausland wieder viele Stimmen den häßlichen Deutschen entdecken, da könne man aber erst einmal nichts machen. Rassistische Anschläge schaden uns, da redet der Außenminister gar nicht drum herum. Allerdings, Lichterketten würden bestimmt helfen. Kinkel ruft praktisch dazu auf, daß das gute Deutschland doch zeigen möge, wir sind gar nicht so, wie es im Ausland vielleicht den Anschein hat. Die Reaktionen in Ankara und Istanbul lassen allerdings keinen Zweifel daran, daß der türkischen Regierung symbolische Aktionen allein nicht mehr ausreichen. Die Bundesregierung solle endlich die Sicherheit der Türken in Deutschland sicherstellen. Zur Not eben vor jedes von Türken bewohnte Haus einen Polizisten.
Das, weiß Innenminister Seiters, ist ja nun nicht zu machen. Die Polizei könne keine absolute Sicherheit gewährleisten. Aber man werde mit Hochdruck die Täter ermitteln. Die Bundesanwaltschaft selbst kümmert sich darum, das Bundeskriminalamt tut sein Bestes, und für sachdienliche Hinweise soll es 100.000 Mark geben.
Außer Lichterketten und polizeilicher Ermittlungsarbeit hat aber Landesvater Rau, der in Solingen als erster die rauchenden Trümmer besichtigte, noch ein weiteres Mittel anzubieten. Das Denken in den Köpfen muß sich verändern. Nur wie? Rau sollte mit seinem eigenen Kopf beginnen. Rechtsradikale Gewalt ist kein Naturereignis, sie entsteht nicht eruptiv aus sich selbst heraus, sondern ist Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Die Stichworte dabei sind Besitzstandswahrung, Verständnis, schleichende Akzeptanz. Diesen Zusammenhang gilt es aufzudecken, sich einzugestehen und öffentlich als Fehler einzuräumen. So könnte ein Ministerpräsident Rau Einfluß auf das Denken nehmen und für Veränderungen sorgen, an deren Ende vielleicht die persönliche Integrität von Nichtdeutschen wieder gewährleistet wird. Es gibt Vorbilder dafür in der Politik – ein Mann, der aus der Erkenntnis eigener Schuld Konsequenzen gezogen hat, Heinrich Albertz, ist gerade gestorben.
Auf dieser Grundlage könnte Politik auch etwas Glaubhaftes tun. Zum Beispiel statt der Beileidsadressen an unsere lieben ausländischen Mitbürger endlich dafür sorgen, daß aus Mitbürgern Bürger werden, die dieselben Rechte genießen wie alle anderen auch. Seit 1973 die damalige sozial-liberale Regierung einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte verhängte, weil in der BRD nach Jahren des Booms die Wirtschaft lahmte, weigert die bundesdeutsche Politik sich, die selbstgeschaffene Einwanderung anzuerkennen. Wider jede Empirie und Vernunft wird bis heute behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Mindestens mit diesen Lebenslügen könnte jetzt aufgeräumt werden. Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und die Abschaffung des Blutrechts bei der Definition der Staatsangehörigkeit wären zwei ganz praktische Schritte, um Lippenbekenntnisse in glaubwürdiges Handeln umzumünzen und der gesellschaftlichen Realität Rechnung zu tragen. Ein Signal, durch das das Denken verändert werden könnte, um ein friedliches Zusammenleben mit Einwanderern zu ermöglichen.
Beides, ein Schuldeingeständnis und praktische Integrationsangebote sind die Voraussetzung, um rechtsextremistischer Gewalt den Nährboden unterschwelliger Sympathie zu entziehen. Solingen hat gezeigt, daß die Morde von Mölln kein singuläres Ereignis waren, die demnächst dem kollektiven Vergessen anheimfallen. Es gibt in Deutschland Menschen, die aus rassistischen Gründen morden. Mörder, die sich ihre nächsten Opfer suchen werden. Wenn diese rassistischen Killer nicht gesellschaftlich isoliert und geächtet werden, wird die Polizei natürlich die nächsten Toten nicht verhindern können. Dann braucht diese Gesellschaft sich auch nicht zu wundern, wenn die jetzigen Opfer nicht mehr stillhalten, sondern zurückschlagen. Noch ist es zu verhindern, auch wenn die Angst unter den Immigranten in demselben Maße zunimmt, wie das Vertrauen in staatlichen Schutz sinkt. Wenn Bonn sich nicht bald ganz deutlich der Parole „Deutschland den Deutschen“ widersetzt, stehen wir vor dem Beginn „ethnischer Konflikte“. Jürgen Gottschlich
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