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SanssouciVorschlag

■ Gert H. Wollheim im Kunstforum der Grundkreditbank

Den neuen Lebensabschnitt, der 1947 mit seiner Ankunft in New York begann, bezeichnete der Maler Gert Wollheim als seine „post-mortale Existenz“ – eine etwas befremdende und doch zutreffende Formulierung für das, was er durchgemacht hatte. Sofort nach dem Machtantritt der Nazis hatte er emigrieren müssen. Seine Lebensgefährtin, die erfolgreiche Berliner Tänzerin Tatjana Barbakoff, war mit ihm ins Pariser Exil gegangen. Bei Kriegsbeginn werden beide als „feindliche Ausländer“ interniert. Tatjana Barbakoff fällt Ende 1943 den Nazis in die Hände, wird nach Auschwitz deportiert und ermordet. Wollheim überlebt und wandert in die USA aus. Dort stirbt er 1974.

Einem Zufall ist es zu verdanken, daß jetzt in zwei ganz verschiedenen Ausstellungen beider Künstler gedacht wird: Tatjana Barbakoff in „Weltenfriede – Jugendglück“ in der Akademie der Künste, Wollheim — mit einem kleinen repräsentativen Querschnitt seiner unlängst in Düsseldorf veranstalteten Retrospektive — im Kunstforum. Der 1894 geborene und in Berlin aufgewachsene Fabrikantensohn gehörte der verlorenen Generation des Ersten Weltkrieges an. Sein Entsetzen über die Perversion des Krieges und die Willkürmaßnahmen der Militärführung bannte Wollheim in eindrucksvolle expressionistische Bilder wie „Der Verwundete“ (1919) und „Der Verurteilte“ (1921), das in der langen Tradition der Erschießungsbilder steht, die mit Goyas „Desastre de la Guerra“ begannen.

Die jetzige Ausstellung zeigt, daß Wollheim zeitlebens so etwas wie ein Wanderer zwischen den Kunststilen gewesen ist. Dem schonungslos offenen Veristen, dem „Neusachlichen“, als welcher Wollheim heutzutage in der Literatur nur noch Erwähnung findet, gingen der Spätexpressionist und frühe Surrealist zur Hand. Dem Künstler, der in den frühen zwanziger Jahren das Enfant terrible der Düsseldorfer Kunstszene war, mit einer Retrospektive zu würdigen, war keine einfache Aufgabe. Große Teile seines Werkes von 1920 bis 1939 sind durch den Nationalsozialismus und den Krieg zerstört worden oder verlorengegangen. Vieles aus der Exilzeit wurde während der Lagerhaft gestohlen. Um so größer das Verdienst der Ausstellungsmacher, neben den erhaltenen Hauptwerken und der umfassenden Präsentation des zeichnerischen Nachlasses – der eine ungewöhnliche Sammlung minutiöser, zigarettenpackungsgroßer Zeichnungen aus der Haftzeit einschließt – den „amerikanischen“ Wollheim bekannt zu machen. Gerade dieser Werkabschnitt offenbart die Bedeutung des künstlerischen Außenseiters für die deutsche Nachkriegskunst. Bereits in den fünfziger Jahren war er mit seinen großen symbolischen Weltlandschaften einen ähnlichen Weg gegangen wie etwa Werner Tübke in der DDR. Kai Artinger

Gert Wollheim 1894–1974. Eine Retrospektive, Kunstforum in der Grundkreditbank, Budapester Straße 35, Tiergarten, bis Ende August 1993, täglich 10 bis 20 Uhr. Katalog: 48 DM.

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