: Georgiens schwieriger Marsch in die Normalität
Während die Hauptstadt Tbilissi langsam wieder zum Leben erwacht, wird im Süden gekämpft. Die ehemalige Sowjetrepublik des Eduard Schewardnadse ist von demokratischen Verhältnissen noch weit entfernt. ■ Aus Tbilissi Klaus-Helge Donath
Die Massen schieben sich wieder über den Rustaweli, die Prachtstraße der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Betriebsamkeit und Geschäftigkeit sind zurückgekehrt, man flaniert, hupt, begrüßt Freunde, schwadroniert und wirft vielleicht auch einen flüchtigen Blick in die Schaufenster, die noch nicht viel zu bieten haben. An den zahlreichen ausgebrannten Fassaden ziehen sich Gerüste hoch. Hinter dem zerbombten Parlament überschaut ein Kran die Verwüstungen des Bürgerkrieges, der zur Jahreswende 1991/92 die ehemalige Sowjetrepublik erschüttert hatte. Nachkriegszeit.
Punkt achtzehn Uhr meldet sich der Krieg zurück. Die Straße leert sich, Geschäfte schließen ihre Tore. Kein Restaurant, keine Saftbar, eine Spezialität des sonnenverwöhnten Georgien, macht eine Ausnahme. Dabei lieben die Georgier ihre geselligen Trinkgelage. Ohne Salz, Brot und Zucker mögen die Kaukasier überleben, heißt es, aber ohne Wein? Unvorstellbar, doch seit Kriegsbeginn fließt der Traubensaft nicht mehr. Noch immer zerreißen nachts vereinzelte Salven die Ruhe im Tal um Tbilissi. „Unsere kleine Nachtmusik“, bemerkt der Armenier Wartan. Die Salven seien zur Normalität geworden, ohne Schüsse könnten die Bürger der georgischen Hauptstadt nicht mehr schlafen. Aus wessen Läufen sie stammen, weiß keiner wirklich. Aus denen der georgischen Nationalgarde? Der Paramilitärs, der Mchedrioni? Oder sind es die kriminellen Banden, die nach wie vor ihr Unwesen treiben?
Vierzehn Monate ist es her, daß der ehemalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse in seine Heimat zurückkehrte. Zunächst stand er einem provisorischen Kriegsrat vor, im letzten Oktober ließ er seine Rolle an der Spitze der ehemaligen Sowjetrepublik durch Wahlen legitimieren. Eigens für ihn wurde das Amt eines Parlamentsvorsitzenden geschaffen, der gleichzeitig Kopf der Exekutive ist.
Die georgische Demokratie ist eben noch jung: Innerhalb von anderthalb Jahren wählten die Bürger des Kaukasus-Landes zweimal mit über neunzigprozentiger Zustimmung ein Staatsoberhaupt. Im Frühjahr 1991 hieß der Sieger Gamsachurdia, im Herbst 1992 ging dessen erklärter Erzfeind Schewardnadse als neuer Präsident aus den Wahlen hervor. Auf ihn, der noch kurz zuvor als Staatsfeind Nummer eins herhalten mußte, richteten sich nun die letzten Hoffnungen, das Land in ruhigere politische und wirtschaftliche Gewässer zu steuern. Vorbehalte gegenüber Schewardnadses Rolle als Außenminister in den Diensten Moskaus schwanden schnell. Mit dem Präsidenten wurde auch das Parlament neu gewählt, und auch dort siegte der Wahlblock „Mschwidoba“ (Friede), den Schewardnadse bis August anführte, dann aber verließ.
Die kleinen bürgerlichen Parteien protestierten schon damals gegen die nach ihrer Ansicht ungleichen Ausgangsbedingungen. Mit Schewardnadse an der Spitze hielt man den Sieg des „Mschwidoba“ zu Recht für vorprogrammiert.
Rund ein Fünftel der Abgeordneten stellt der schillernde Block im georgischen Parlament. Neben den ehemaligen Kommunisten – der „Demokratischen Union“ – gehören ihm sechs weitere Parteien an, in denen vornehmlich Vertreter der alten Nomenklatura sitzen. Aber auch Monarchisten und die paramilitärische Organisation „Lemi“ tummeln sich in der Volksvertretung von Tbilissi.
Die Zusammensetzung des Parlamentes zeigt, wie wenig programmatische Gesichtspunkte bei der Bündnissuche eine Rolle spielten. Insgesamt sitzen 35 Parteien im Parlament, elf davon nur mit ein oder zwei Abgeordneten. Stärkste Kraft ohne irgendwelche Blockbindung wurde die National-Demokratische Partei um ihren Vorsitzenden Tschanturia. Sie erhielt acht Prozent und zwölf Sitze. Hätte die unversöhnliche Opposition gegen den geflohenen Präsidenten Gamsachurdia die Wahl nicht boykottiert, wäre die Zusammensetzung des georgischen Parlamentes wohl noch bunter geworden. Immerhin zehn Prozent hätte sie sicher erhalten. Die Vielfalt der Organisationen in der Volksversammlung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Georgien keineswegs eine parlamentarische Demokratie ist. Die politische Landschaft wird nicht von den Parteien geprägt. Die meisten sind nur Honoratiorenvereinigungen mit spärlicher Gefolgschaft.
Auch das Procedere der Wahl zum Staatsoberhaupt zeigt, daß Georgien von einer Demokratie meilenweit entfernt ist. So vollzog das Parlament einen Monat nach den Präsidentschaftswahlen die Entscheidung der Wähler noch einmal nach. Das Ergebnis unterschied sich nicht wesentlich vom Votum der Bürger: Von 188 Parlamentariern bestätigten 180 Schewardnadse formal als Parlamentspräsidenten. Ein klares Zeichen: Georgien war des Streitens müde. Und wieder einmal wurde die Hoffnung an eine einzelne Person geheftet, der Hoffnungsträger zum rettenden Engel stilisiert.
Schewardnadse trägt schwer an dieser Last. Zwar gelang es ihm, den Krieg aus den Straßen der Hauptstadt zu verbannen. Nur noch an den Ausfallstraßen erinnern Sperren und Kontrollen an den latenten Kriegszustand. Dafür verlagerte sich das blutige Geschehen an den Rand des Landes nach Abchasien. Die lange Zeit autonome Sowjet-Republik an der Schwarzmeerküste erklärte im vergangenen August ihre Unabhängigkeit. Der im provisorischen Staatsrat für Verteidigung verantwortliche Haudegen Tengis Kitowani rückte mit georgischen Truppen ein. Seither herrscht ein Krieg, der bereits Tausende von Opfern auf beiden Seiten forderte. Waffenstillstände werden regelmäßig gebrochen, zuletzt am Dienstag. Ganze elf Tage hatte die letzte Feuerpause gehalten.
Der Militärkommandant Kitowani, der nach wie vor die georgischen Truppen in Abchasien befehligt, war einer der Köpfe des Putsches gegen Gamsachurdia gewesen. Die georgische Nationalgarde ist ihm aufs Wort ergeben. Und auch in der Bevölkerung genießt der eigenwillige Heerführer, der oft auf eigene Faust handelte, einen legendären Ruf. Die Wähler schickten ihn sogar als Abgeordneten ins Parlament.
Um Georgien in die Normalität zu führen, mußte Schewardnadse Überhänge aus dem Bürgerkrieg beseitigen. Er zögerte es hinaus. Schließlich konnte er sich bis heute der Unterstützung der Nationalgarde nie gänzlich sicher sein. Und auch die paramilitärische Einheit der Mchedrioni unter ihrem Führer Dschaba Iossellani wollte sich nicht von ihrer Leitfigur trennen und in ein normales Heer eingegliedert werden. Die zig unterschiedlichen militärischen Verbände sind ein permanenter Destabilisierungsfaktor.
Um dem entgegenzuwirken, lancierte Schewardnadse die Kandidatur des jungen Militärs Karakaschwili. Zuvor hatte das Parlament gedroht, Kitowani in seinem Amt als geschäftsführender Verteidigungsminister nicht wieder zu bestätigen. Wider Erwarten kam es in der Nationalgarde nicht zu Protesten. Um den Rivalitäten nicht weiter Vorschub zu leisten, sollte auch Iossellani seinen Posten niederlegen. Der kämpft jedoch noch um einen Sonderstatus seiner Privatarmee.
Der Krieg in Abchasien hält unterdessen an. Das Schicksal des „subtropischen Leckerbissens“ Abchasien ist in Georgien das wichtigste innenpolitische Thema. Noch vor Jahresfrist waren sich die meisten Georgier einig, daß das militärische Vorgehen gegen die sezessionistische Republik völlig rechtens sei. Für die heißblütigen, meist nationalistisch gesinnten Kaukasier gab es daran keinen Zweifel. Heute hört man schon leisere Töne. War der Einmarsch nötig, hätte man nicht auch einen anderen Weg finden können? „Abchasien hat den Krieg schon verloren, Georgien ihn nicht gewonnen“, meinte der georgische Schriftsteller Haindrowa.
Immerhin sind sich vernünftige, gemäßigte und Vollblut-Nationalisten über die Rolle Rußlands in diesem Konflikt einig: Moskau schüre den Zwiespalt, um die Unabhängigkeit Georgiens zu untergraben. Das Stabquartier der russischen Kaukasus-Armee befindet sich nach wie vor in Tbilissi. Der Presseoffizier Dogatschow ist außerordentlich vorsichtig in seinen Aussagen, zur einen wie zur anderen Seite. Das Kriegsgebiet fällt nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich, wiegelt er ab. „Fragen dazu stellen Sie vor Ort oder direkt in Moskau!“
Offiziell hält sich das „demokratische Moskau“ aus dem Konflikt heraus. Die konservative russische Legislative und Vizepräsident Rutskoi vehehlen dagegen ihre Sympathien nicht. Sie liegen auf der Seite Abchasiens und dessen Präsidenten Ardsinba. Zwei Momente verbinden die russischen Konservativen mit den Sezessionisten am Schwarzen Meer: Der neue russische Imperialismus und die Trauer über den gescheiterten Sozialismus. In seiner Unabhängigkeitserklärung vom Sommer vergangenen Jahres machte sich Abchasien gar erneut zur sozialistischen Republik. Doch das ist eher eine Randposse der Geschichte, die der jahrzehntelangen Tragödie des Schwarzmeerfleckens nicht gerecht wird.
Wie andere kleine Völker auch wurden die Abchasen seit langem als Spielball der russischen Nationalitätenpolitik und des stalinistischen Terrors mißbraucht, und nationalistische Auswüchse der Georgier rächten sich noch einmal an diesem kleinen Volk mit nicht vielmehr als hunderttausend Menschen. Die Georgier sind Christen, die Abchasen Muslime, ihre Sprache hat nichts mit dem Georgischen gemein. Sie wurden gezwungen, die georgische Schrift zu übernehmen, dann drückte ihnen Rußland das Kyrillische auf. Und das alles innerhalb von zwanzig Jahren.
Die Assimilierung an Georgien begann zur Zeit der Stalinschen Säuberungen im Jahre 1937. Damals wurden alle verantwortlichen Posten mit Georgiern besetzt. Manchmal siedelte man sogar unter Zwangsmaßmahmen Georgier in Abchasien an. Heute umfaßt die Titularnation nur noch ein Fünftel, während Georgier knapp die Hälfte ausmachen. Auch in relativ friedlichen Zeiten barg das eine Menge Reizstoff in sich. Zuletzt fühlten sich die Georgier wegen der „abchasischen Sonderrechte“ übervorteilt.
Häufiger wurden über dem Kampfgebiet russische Flugzeuge abgeschossen. Für Georgien ein eindeutiger Beweis russischer Parteilichkeit. Als Rußlands Verteidigungsminister Gratschow kürzlich davon sprach, Batumi und Pizunda, beides georgische Schwarzmeerorte, seien für Rußland von großem strategischem Interesse, schlugen die Wellen hoch. War das ein offener Hinweis russischer Annektionsvorhaben?
Dogatschow gibt dafür eine ganz banale Erklärung. Gerade haben Rußland und Georgien ein Truppenabzugsabkommen unterzeichnet. Am 1.Januar 96 soll der letzte russische Soldat das Land verlassen haben. Im russischen Nordkaukasus binnen so kurzer Zeit ausreichend Quartiere zu errichten sei außerordentlich schwierig, man wäre froh, könnte man noch einige Basen behalten. So zumindest interpretiert es der russische Presseoffizier Dogatschow.
In Tbilissi wächst der Argwohn. Zumal man nicht einmal weiß, wieviele Russen im eigenen Land stationiert sind. Offiziell ist die Rede von 18.000. Wascha Adamia, Vorsitzender der Parlamentskommission „Öffentliche Ordnung und Gesetzeswahrung“, bezweifelt die Angaben. Der Nationalist mit Hang zu Verschwörungstheorien geht von über 200.000 Soldaten aus. Wären es nur die angegebenen paar Tausend, „wieso dann ein Wohnungsproblem?“ Dogatschow will keine Zahlen nennen. Der neue Verteidigungsminister Karakaschwili war übrigens sein Schüler, als Dogatschow der Militärfakultät als Dekan vorstand.
Abenteuerliche Versionen über Rußlands Infiltration grassieren in Tbilissi. Adamia will Beweise dafür haben, daß durch Südossetien, das andere krisengeschüttelte autonome Gebiet, das Georgier nicht mehr vollständig kontrollieren, Heroin geschmuggelt wird – um den georgischen Widerstandsgeist zu schwächen. Südossetien verbindet mit dem zu Rußland gehörigen Nordossetien ein Tunnel, den Osseten und Russen überwachen. Schwerwiegende Unterstellungen.
Guram Berischwili von der Republikanischen Partei ist ein besonnener Mann. Seit langem ist der Professor politisch aktiv. Auch er hegt an Rußlands Untergrundarbeit keinen Zweifel, wenn auch auf andere Weise. Stimmen häufen sich, die Schewardnadses Haltung gegenüber Moskau kritisieren. Im Grunde genommen ein alter Vorwurf, der jetzt wieder wach wird: „Schewardnadse ist befangen im alten Denken.“
Als sich Jelzin und der Georgier neulich in Moskau trafen, drang nichts aus der Unterredung nach außen. Georgiens Staatsoberhaupt verfolgt die seit der Oktoberrevolution obligatorische Linie, „ohne Rußland geht nichts“. Im Parlament soll er sogar gesagt haben, Georgien würde verhungern ohne russische Hilfe.
So etwas hört man weder in aufgeklärten noch nationalistischen Kreisen gerne. Sie halten ihrer Führungsfigur vor, die Orientierung nach Westen zu verschleppen. Er sei zu zögerlich. In anderen Fragen verhält er sich ähnlich. Das vor den Wahlen angekündigte Aktionsprogramm liegt bis heute nicht vor. Eingriffe in die Wirtschaft hat er unterlassen. An Privatisierung ist nicht zu denken. Das Bankensystem, dringend nötig, um sich vom inflationären Rubel abzukoppeln, kam keinen Schritt voran. Notgeld ersetzt die knappe russische Währung.
Intern wird Schewardnadses Führungsstil gerügt, mit dem überkommenen hierarchischen Modell der KPdSU verglichen: Alle, die dem Präsidenten untergeordnet sind, haben seine Interessen auszuführen. Zusammenarbeit ist keine Stärke des ehemaligen Außenministers der UdSSR. In Tbilissi herrscht kein Krieg mehr. Doch die Bilanz nach einem Jahr Schewardnadse fällt eher bescheiden aus. Noch vertrauen ihm seine Landsleute.
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