■ Der Kunstgriff mit der doppelten Staatsbürgerschaft: Problemlösung durch Umbenennung?
Wo sich Abgründe öffnen, greift man nach jedem Strohhalm. Strohhalm? Lieber nicht in diesen Zeiten, wo alles Brennbare schreckliche Bilder weckt. Und trotzdem sucht man nach etwas Konkretem. Nicht schon wieder mit leeren Händen dastehen, mit nichts als Scham und Ratlosigkeit an den Fingern. Man möchte etwas anzubieten haben, was den Schmerz lindert und vor allem: die Gemüter besänftigt. Andere Völker hatten dafür eine Friedenspfeife. Wir Deutschen haben offenbar nur uns selbst. Unser Geschenk ist die deutsche Staatsbürgerschaft – das Recht, endlich so zu sein wie wir.
Das Bedürfnis nach Wiedergutmachung zeugt von Anstand, aber die plötzlich so einmütige Wahl des Geschenks irritiert. Seit Jahren wird um eine erleichterte Einbürgerung mit der Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft gestritten. Vergebens. Jetzt ist die Forderung in aller Munde, als ob man allenthalben schon immer überzeugt war, daß hier der Schlüssel zur Problemlösung liegt. Das macht die Forderung nach einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht weniger vernünftig. Warum also nicht momentane Betroffenheit ausnutzen, um längst notwendige Pflöcke einzuschlagen, bevor das schlechte Gewissen wieder dem politischen Business weicht? Auch düstere Zeiten kennen die Gunst der Stunde.
Sicher: Den ImmigrantInnen in Deutschland und ihren Kindern wird der Adler im Paß endlich die bisherige Rechtlosigkeit nehmen. Das ist nicht zu unterschätzen – auf der bürokratischen, politischen und auf der psychologischen Ebene nicht. Der neue Status verleiht mehr Spielraum, sich gegen Rassismus zu wehren, aber er berührt dessen Wurzeln nicht. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist der Versuch, gesellschaftliche Spannungen per Umtaufe zu entschärfen: Wo alle Inländer sind, gibt es kein „Ausländerproblem“. Doch selbst wenn dieser Kunstgriff gelänge (was zu bezweifeln ist), wäre er ein Experiment mit fragwürdigen Nebenwirkungen: Fremdenfeindlichkeit wäre damit wieder einmal zu einem Problem der Fremden gemacht und könnte im Umkehrschluß dadurch sogar Bestätigung erfahren: Wenn die Eingebürgerten die (scheinbare) Immunität des Deutschseins genießen, sind diejenigen, die den Schutz nicht beanspruchen können oder wollen, um so mehr als Ausländer stigmatisiert.
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Zugeständnis an beide Seiten: Den Immigranten verleiht sie mehr Gleichberechtigung und Verantwortung. Den Deutschen verheißt sie Beschwichtigung: Seht her, eigentlich sind sie wir wir, ihr müßt nicht mehr lange mit Unterschiedlichkeit und Fremdheit leben. Genau diese Andersartigkeit jedoch ist es, die die Deutschen (und nicht nur sie) endlich lernen müßten als Bestandteil ihres Alltags zu akzeptieren.
Doch der Kunstgriff der Mutation per Definition wird ohnehin kaum gelingen. Auch mit deutschem Paß werden die jetzt schon bei uns lebenden Immigranten die nächsten Jahre noch als „Ausländer“ kenntlich sein – an ihrer Sprache, ihrem Aussehen, ihrer Kultur. Gerade die Morde von Mölln und Solingen haben deutlich gemacht, wie lückenhaft verzahnt die multikulturelle Gesellschaft tatsächlich ist. Dreißigjähriges Nebeneinanderleben hat nur in seltenen Fällen zum wirklichen Zusammmenleben geführt. Selbst große Teile der zweiten und dritten Immigrantengeneration leben privat in der eigenen Welt. Freundschaften und Ehen sind nach wie vor die Ausnahme. Eine Einladung in eine türkische Familie oder zu einer Hochzeitsfeier ist immer noch mehr exotisches Erlebnis als Selbstverständlichkeit. Wir klopfen dem türkischen Gemüsemann gern auf die Schulter aber beobachten mit gemischten Gefühlen die Trauben von bärtigen Männern vor den Moscheen und die Aggressivität ihrer Söhne, die sich mit BMWs und Kampfhunden bewaffnen.
Doch die Abschottung ist keineswegs nur einseitig. Die großen Immigrantengruppen haben sich in ihren vier Wänden zwischen zwei Welten eingerichtet. Immense Sprachprobleme, die man auch nach zehn, fünfzehn Jahren besonders bei türkischen Frauen (aber auch bei etlichen Jugendlichen) beobachten kann, sind der eine Ausdruck der inneren Abwehr gegen die deutsche Realität. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist der andere. Sie ist ein Zugeständnis an den emotionalen Spagat vieler ImmigrantInnen, aber sie ist auch ein Kompromiß, der eine faule Realität besiegelt. Denn der Hauptgrund für die bisherige Weigerung, die alte Staatsbürgerschaft aufzugeben, ist nicht der damit verbundene bürokratische Hindernislauf, sondern diese Ambivalenz. Sie ist verständlich, heute mehr denn je. Aber sie macht die Forderung, sich zu entscheiden, noch lange nicht zu einer Zumutung. Schließlich muß man einen Staat nicht mit Haut und Haaren lieben und mit Fähnchen und Kanonen verteidigen, wenn man seinen Paß trägt. Viele Türken leben aber offenbar in einer so übersteigerten Loyalität zu Heimatstaat und Nation, daß sie sich weder eine ähnlich enge Beziehung zum bundesrepublikanischen Staat vorstellen können noch eine schlicht pragmatische. Stand- und Spielbein in diesem Immigrantenspagat, das zeigen die bisherigen niedrigen Einbürgerungszahlen, bewegen sich dabei genau seitenverkehrt zur Realität: Zu einer Entscheidung gezwungen, würde die Mehrheit kaum den tatsächlichen (und mehrheitlich auch zukünftigen) Lebensmittelpunkt Deutschland zum Staat der Wahl küren, sondern den, den viele nur aus sporadischen Urlaubsreisen kennen. Selbst in einer Stadt wie Berlin, die die dpppelte Staatsbürgerschaft toleriert, hat sich die Zahl der Einbürgerungswilligen weit weniger erhöht, als man hätte annehmen können. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist daher eher kryptisches Produkt einer steckengebliebenen Integration. Doch gerade über die redet in den Tagen der schnellen Rezepte niemand mehr. Dabei müßte es darum vorrangig und langfristig gehen, denn das Ausländerproblem wird uns erhalten bleiben – das Ausländerproblem, das wirklich die Ausländer und nicht die Deutschen haben: Im Zuge weiterer Rationalisierung und Rezession werden Immigranten noch stärker als jetzt an den untersten Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Die Eltern können nicht Schritt halten mit technischer Modernisierung und östlicher Konkurrenz. Die Kinder werden bei sprachlichen Defiziten und familiären Spannungen in desolate Hauptschulen abgeschoben. Schon jetzt ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern in Berlin mit über 20 Prozent höher als in den Krisenregionen Ostdeutschlands. Gegen berufliche und soziale Ausgrenzung hilft kein Paß. Ein niedriger Bildungsstand wird nicht durch eine andere Staatsangehörigkeit gehoben, und die eigene Ambivalenz gegenüber dem künftigen Lebensmittelpunkt wird auch mit deutschem Stempel die eigenen Zukunftsperspektiven weiter blockieren. Um hier Abhilfe zu schaffen, braucht es Phantasie, Konzepte und Geld, doch die sind derzeit Mangelware. Staatsbürgerschaften dagegen gibt es unbegrenzt. Vera Gaserow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen